Alexander Tscherkassov auf der Mathematiker-Konferenz zur Unterstützung von Asat Miftachov

Am 5. und 6. Juli fanden in Paris die zweite Konferenz in Solidarität mit dem politischen Gefangenen Azat Miftachov statt, in diesem Jahr unter der Bezeichnung „Azat-Miftakhov-Tage gegen den Krieg“. Veranstalter waren das Unterstützungskomitee von Mathematikern für Miftachov und das Zentrum zum Schutz der Menschenrrechte Memorial.
Alexander Tscherkassov30. August 2022UA DE EN ES FR IT RU

Олександр Черкасов. Фото: Радіо Свобода Alexander Tscherkassov. Foto: Radio Liberty Aleksandr Cherkasov. Photo: Radio Liberty Alexandre Tcherkasov. Photo: Radio Liberty Aleksandr Čerkasov. Foto: Radio Liberty Александр Черкасов. Фото: Радио Свобода

Alexander Tscherkasov. Foto: Radio Liberty

Asat Miftachov ist seit 2019 inhaftiert, im Januar 2021 wurde er (wegen eines angeblichen Sprengstoffanschlags auf „Einiges Russland) zu sechs Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Memorial hat ihn als politischen Gefangenen anerkannt.

Wir dokumentieren den Vortrag von Alexander Tscherkassov vom 6. Juli auf der Konferenz (mit einigen aktualisierten Angaben).


Vielen Dank für die Einladung. Unsere Begegnung ist dem Verfahren gegen Asat Miftachov gewidmet, aber ich werde darüber nicht im Einzelnen sprechen. Die Anwesenden kennen ja vermutlich seinen Namen und wissen über das Verfahren gegen ihn Bescheid.

Nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn des großangelegten Kriegs gegen die Ukraine, kann man kaum noch über etwas anderes sprechen als über diesen Krieg. Oder, wenn das zu hart ausgedrückt ist – man kann kaum, wenn man über irgendwas spricht, dabei nicht auch über den Krieg in der Ukraine sprechen. Aber richtig ist auch etwas anderes: Wenn wir über den Krieg in der Ukraine sprechen, über Zehntausende Getötete und Millionen von Flüchtlingen, über Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dürfen wir die Gründe für den Krieg nicht vergessen. Über die Bedingungen, die diesen unvorstellbaren Krieg möglich gemacht haben.

Und die politischen Gefangenen, die politischen Verfolgungen in Russland, gehören zu diesen Bedingungen.

Ein Staat, der die Menschenrechte innerhalb seiner Landesgrenzen grob und massiv verletzt, wird früher oder später zu einer Bedrohung für den Frieden und die internationale Sicherheit. Das ist ein Theorem, das offenbar endgültig durch den Zweiten Weltkrieg bewiesen wurde. Auf Grund dieser Erfahrung wurde ein System internationaler Zusammenarbeit und internationaler Organisationen geschaffen, das eine Wiederholung des Jahres 1939 unmöglich machen sollte. Das ist nicht gelungen. Im Zentrum Europas wurde erneut ein Krieg entfesselt.

Zu fragen, warum in Russland selbst kein Impeachment eingeleitet wurde, warum es keine deutlichen Stellungnahmen von Oppositionsführern im Parlament und keine Antikriegs-Kampagnen in den nationalen Massenmedien gibt, scheint heute naiv. Das parlamentarische sowie das Parteiensystem sind im Lande schon lange demontiert und dienen lediglich der Dekoration. Die Medien werden vom Staat kontrolliert und sind Werkzeuge der Propaganda. Reaktionen oder Feedbacks, die den Krieg hätten abwenden sollen, haben nicht funktioniert. Wie und warum es nicht gelungen ist und warum nicht versucht wurde, den Prozess aufzuhalten, in dessen Verlauf Russland zu einem Aggressor, zu einem „kranken Mann von Europa“ wurde, das ist ein eigenes schmerzliches Thema.
Aber die Frage, die diese ganzen Monate im Raum steht, lautet: Warum gibt es keinen Massendemonstrationen gegen den Krieg? Woran liegt es, dass der Staat die Gesellschaft so effizient unter Kontrolle hat?

Der Grund liegt nicht zuletzt eben in den politischen Repressionen, in den strafrechtlichen Verurteilungen und Inhaftierungen für friedliche Aktivitäten. Aber es gibt auch einen wichtigen Kontext dieser Repressionen, der sie so erfolgreich macht.

Das ist zum ersten der politische Terror. Zwar gibt es in Russland seit 1996 keine Todesstrafe mehr, aber ich werde ihnen einige Namen nennen: die Journalistin der Novaja gazeta Anna Politkovskaja, den Anwalt und linken Aktivisten Stanislav Markelov, die Mitarbeiterin von Memorial Natalja Estemirova. Sie alle kämpften gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen im bewaffneten Konflikt im Kaukasus, in Tschetschenien – und sie alle wurden ermordet. Der Oppositionspolitiker Boris Nemtsov war seit 2014 einer der Führer der Antikriegs-Bewegung in Russland. Auch er wurde ermordet. Es schien, als könnte man für diese und weitere Tode von Journalisten, Aktivisten und Oppositionspolitikern marginale Gruppen oder die Machthaber in Tschetschenien verantwortlich machen. Aber nach dem Versuch, einen anderen Oppositionsführer, Aleksej Navalnjy, zu vergiften, wurde – weitgehend durch diesen selbst – ein regelrechtes System politischer Giftmorde durch Agenten der russländischen zentralen Behörden aufgedeckt. Navalnyj überlebte seine Vergiftung, er untersuchte sie gemeinsam mit Christo Grozev, kehrte dann in sein Land zurück und befindet sich jetzt in Haft.

Warum spreche ich über politische Morde, das scheint doch ein ganz anderes, ganz singuläres Thema zu sein? Aber dieses „ganz singuläre Thema“ verleiht allem übrigen eine wichtige Bedeutung – ebenso wie ein „signifikant singulärer Punkt“ einer Funktion viel über das Verhalten dieser Funktion an anderen Punkten und im gesamten Bestimmungsbereich aussagt. Diese Morde drücken der gesamten Gesellschaft ihren Stempel auf, ebenso wie das moderne Tschetschenien durch das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen geprägt wurde, das im Zweiten Tschetschenischen Krieg und danach zu einer verbreiteten und systematischen Praxis wurde.

Als „Trägheit der Angst“ (inercija stracha)  – bezeichnete der sowjetische Wissenschaftler und Dissident Valentin Turtschin seine Arbeit über die sowjetische Gesellschaft der poststalinistischen Periode, die 1968 im Samisdat erschien. Doch auch jetzt, wenn man z. B. von Tschetschenien, über die „Kadyrovzy“ und die Allmacht von Ramsan Kadyrov spricht, muss man an die vielen Tausende verschwundener Personen erinnern, deren Tod die Voraussetzung für die heutige „Stabilität“ und Regierbarkeit Tschetscheniens geschaffen hat.

Wer sich in Russland offen gegen den Krieg wendet, wird verhaftet und verurteilt.

Ein weiterer russischer Politiker, der zwei Vergiftungsattentate der russischen Machthaber überlebt hat, ist Vladimir Kara-Mursa. Er hat alles dafür getan, um die ganze Welt über unser heutiges Thema – die politischen Gefangenen in Russland – zu informieren. Jetzt wurde er wegen einer Stellungnahme zum Krieg in der Ukraine inhaftiert. Er hatte sich in der amerikanischen Provinz geäußert, in Arizona! Und befindet sich jetzt in einem Gefängnis in Russland.

Am morgigen 7. Juli wird gegen den Moskauer Abgeordneten Aleksej Gorinov verhandelt. Auf einer Sitzung des Stadtrates hatte er über den Krieg gesprochen, über die Opfer des Krieges, über ermordete Kinder – und wurde dafür verhaftet. In den nächsten Tagen wird das Urteil gefällt, und es wird wahrscheinlich hart ausfallen [am 8. Juli wurde Gorinov zu sieben Jahren Haft verurteilt].

Sie und Dutzende weiterer Personen werden nach dem neuen Artikel des Strafgesetzbuchs über „Fakes über die Armee“ angeklagt. Mathematiker schätzen die Logik: Jede beliebige Behauptung, die nicht den offiziellen Erklärungen der offiziellen Vertreter des Verteidigungsministeriums entspricht, wird in Russland für falsch erklärt. Dafür kann man bis zu zehn Jahre Haft bekommen.

Ein anderer Moskauer Abgeordneter, Ilja Jaschin, hat sich in den ganzen letzten Monaten immer wieder offen gegen den Krieg ausgesprochen. Jetzt sitzt er wegen eines fabrizierten Ordnungsverfahrens in Haft. Aber wahrscheinlich ist dieses Verfahren hier das polizeiliche Lemma, die Vorstufe zum Beweis eines „Theorems“, dann schon nach Artikel 207.3 des StGB. Zunächst wird jemand nach einem ordnungsrechtlichen Artikel festgenommen, und während er sich in Haft befindet, werden die Voraussetzungen geschaffen, um ein Strafverfahren gegen ihn einzuleiten: „Fakes über die Armee, bis zu zehn Jahren Haft“.

Hier möchte ich Sie auf ein zweites wichtiges Moment aufmerksam machen – auf das Verhältnis und den Zusammenhang von Ordnungs- und Strafverfahren im heutigen Russland. Etwas Ähnliches wie diese Beziehung, diese Struktur hat es schon in den spätsowjetischen Jahren gegeben – von Ende der 1950er bis Ende der 1980er Jahre.

In der Zeit nach Stalin stand die sowjetische Regierung vor einem Problem: Wie sollte man das Sozium effizient kontrollieren (selbst wenn es sich im Zustand ständiger Angst befand), ohne dabei auf Massenrepressionen zurückzugreifen? Die damaligen Machthaber hatten ihre eigene Angst noch gut im Kopf. Sie hatten nicht vergessen, wie leicht Repressionen außer Kontrolle geraten. Also wurde 1959 ein System der „Prophylaxe“ eingeführt. Auf eine Person, die aus politischen Gründen strafrechtlich verurteilt wurde, fielen etwa hundert „prophylaktisch Behandelte“, die außergerichtlichen, administrativen, nichtoffiziellen Repressionen unterworfen wurden – aber mit der unverhüllten Drohung mit strafrechtlicher Verfolgung für den Fall, dass sie ihre Aktivitäten fortsetzen sollten.

In dem Repressionssystem, das in den letzten Monaten und Jahren aufgebaut wurde, lässt sich wenn nicht dieselbe, so doch eine ähnliche Logik vermuten.

Für eine Kundgebung oder Mahnwache wird in einem Ordnungsverfahren nach Art. 20.2.5. eine Geldstrafe von einigen Zehntausend Rubeln verhängt. Im Wiederholungsfalle folgt auf eine Mahnwache Art. 20.2.8 mit bis zu 300.000 Rb. oder bis zu 30 Tagen Haft. Und wenn es innerhalb eines halben Jahres zu drei Festnahmen kommt, kann ein Strafverfahren nach Art. 212.1 folgen und eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren verhängt werden. Dieser Artikel wird als „Dadin-Artikel“ bezeichnet nach dem Aktivisten Ildar Dadin, der als erster danach verurteilt wurde.

Zu Beginn des Kriegs in der Ukraine, am 4. März 2022, wurden besondere Artikel über die „Diskreditierung der russländischen Armee“ eingeführt: der Artikel 20.3.3 im Ordnungsstrafrecht (Geldstrafe bis zu 50.000 Rubeln oder bis zu 100.000, wenn zu öffentlichen Aktionen aufgerufen wird) und der Artikel 280.3 im StGB (bis zu fünf Jahren Haft).

Obwohl also nirgendwo das Wort „Prophylaxe“ auftaucht, ist die Perspektive einer strafrechtlichen Verfolgung bei fortgesetzten Aktivitäten in beiden Fällen eindeutig vorgeschrieben.

Im Laufe der Proteste der letzten Monate wurden gegen viele Tausende Ordnungsstrafverfahren eingeleitet nach den für „Kundgebungen“ vorgesehenen Artikeln (nach den Angaben von OVD-Info ist es „seit dem 24. Februar zu 16.334 Festnahmen für eine Positionierung gegen den Krieg“ – Stand 10. Juli - gekommen). Wegen „Diskreditierung der Armee“ gab es mehr als zweieinhalbtausend Verfahren (2.876 in erster Instanz, Stand 10. Juli). All diese Personen wurden nicht strafrechtlich verurteilt und nicht einmal angeklagt, aber sie können jederzeit „eingesperrt“ werden, wenn sie noch einmal auf die Straße gehen oder ihre Meinung äußern.

Dabei ist es nicht einmal notwendig, dass sie von Polizisten auf der Straße festgenommen werden. Wir leben im 21. Jahrhundert, und die Entwicklung bleibt nicht stehen. In Moskau gibt es ein Gesichtserkennungssystem mit Videokameras, die auf den Straßen und in der Metro angebracht sind. Im letzten Jahr wurden die Aufzeichnungen dieser Kameras genutzt, um Ordnungsstrafverfahren wegen „Kundgebungen und Demonstrationen“ einzuleiten. Vor einem Monat, am 12. Juni, haben Polizisten auf Grund der Daten dieser Geräte Personen angehalten, die gar nicht zu einer Kundgebung gehen wollten, sondern einfach auf dem Weg zur Metro waren, um ins Stadtzentrum zu fahren.

Ich will noch ein weiteres Moment erwähnen, das Mathematiker besonders erfreut. Bei einer solchen „stufenweisen“ Verantwortlichkeit - am Anfang steht ein Ordnungs- und erst dann kommt ein Strafverfahren - werden in der zweiten Etappe vor Gericht die Urteile aus dem Ordnungsstrafverfahren (d. h. bewusst „schwächere“ Gründe) als Beweise für die folgende strafrechtliche Verurteilung verwendet. In Ordnungsverfahren hat die Verteidigung keine solchen Möglichkeiten wie im Strafprozess, die Anklage präsentiert der Richter selbst (d. h. er ist Richter und Staatsanwalt in einer Person). Die Richter stempeln die Urteile anhand der bei der Polizei fabrizierten Protokolle wie am Fließband ab, und später werden diese Entscheidungen als vollwertige Beweise gewertet: Das ist eine „administrative Vorverurteilung“!

Wenn man also von politischen Verfolgungen spricht, muss man diesen „Eisberg unter Wasser“ berücksichtigen – jene, die nicht verurteilt wurden, sich aber in latenter Gefahr befinden.

Der dritte Punkt (in der Reihe, nicht nach der Bedeutung) ist besonders wichtig: Die Haftbedingungen während der Untersuchungshaft und nach dem Urteil. Einfacher ausgedrückt, die Folterungen, grausame und menschenunwürdige Behandlung und Strafmaßnahmen. Hier einige Beispiele aus den letzten Tagen:

Der oben erwähnte Abgeordnete Aleksej Gorinov, den Memorial als politischen Gefangenen anerkannt hat, wurde nach der Verhaftung in eine Zelle für vier Personen gesperrt, in der sich sieben Menschen befanden. Er konnte nicht normal schlafen, und als er krank war, erhielt er nicht die erforderliche Behandlung und Pflege.

Das zweite Beispiel. Der Physiker Dmitrij Kolker wurde am 30. Juni vom FSB verhaftet. Wir kamen nicht mehr dazu, ihn in die Liste politischer Gefangener aufzunehmen. Er hatte Krebs im vierten Stadium. Man hatte ihn aus dem Krankenhaus geholt, und drei Tage danach starb er im Lefortovo-Gefängnis.

Hier muss ich sagen, dass selbst in den düsteren Zeiten, als Jurij Andropov an der Macht war, das Komitee für Staatssicherheit nach Möglichkeit keine Personen mit einer schweren Krebserkrankung verhaftete! Als 1983 der Hilfsfonds von Solzhenizyn für politische Gefangene „zerschlagen“ wurde, hat man Andrej Kistjakovskij, der den Fonds verwaltete, nicht verhaftet, weil er todkrank war. Ich kann diese Liste fortsetzen. Das wurde damals einfach vor der ganzen Welt als unanständig empfunden. Jetzt ist das allerdings nicht mehr so. Im Gegenteil, alle wissen, dass man auch einen kranken, sterbenden Menschen ins Gefängnis werfen kann.

Das dritte Beispiel. Vor einigen Tagen wurde bekannt, unter welchen Bedingungen der politische Gefangene Aleksej Navalnyj inhaftiert ist. In der Strafkolonie strengen Regimes hat man für ihn ein „Gefängnis im Gefängnis“ eingerichtet. Einen sechs Meter hohen undurchsichtigen Zaun, strenge Isolation; maximal unangenehme Bedingungen für einen Menschen mit Rückenproblemen, sowohl während der Arbeitszeit als auch danach. Er wird gezwungen, Lieder anzuhören, die den FSB verherrlichen, und stundenlang unter Putins Portrait zu sitzen. Das ist vielleicht besser als die „besonderen Bedingungen“, wie sie für ihn in seinem vorigen Lager geschaffen wurden. Aber halten wir fest, dass Navalnyj ja jemand ist, auf den sich die öffentliche Aufmerksamkeit konzentriert.

Mit „einfachen“ politischen Gefangenen ist das alles leichter. Der schon erwähnte Ildar Dadin wurde in Haft von Mitarbeitern der Lagerverwaltung gefoltert. Das ist alles andere als eine Ausnahme: Folterungen gehören in russischen Haftanstalten längst zum System, nicht nur bei politischen Gefangenen, sondern bei allen, die sich nicht brechen lassen.

Bei Ermittlungen und Beweisaufnahme gehören Folterungen ebenfalls zum System. Ich habe schon die Zerschlagung des russischen Hilfsfonds für politische Gefangene in der UdSSR durch das KGB erwähnt: 1983 wurde ein weiterer Verwalter des Fonds, Sergej Chodorovitsch, nach seiner Verhaftung ein halbes Jahr in der Petrovka-Straße im Zentrum von Moskau gefoltert – aber diese „Schmutzarbeit“ wurde von Mithäftlingen ausgeführt. von Kriminellen, die mit der Ermittlung zusammenarbeiteten. Das nannte sich „Press-Zelle“, und so etwas gibt es auch heute. Aber anders als zu spätsowjetischen Zeiten ist die Folter heute schon längst zu einem System ohne „Vermittler“ geworden, sie wird von „Personen in Uniform“ durchgeführt, von Vernehmern und Geheimdienstlern.

Und das ist kein Geheimnis – dass in Russland gefoltert wird, wissen heute eigentlich alle. Auch die, die auf die Straße gegangen sind, um gegen den Krieg in der Ukraine zu protestieren.

Als Resümee kann ich sagen, dass die politischen Repressionen, Strafurteile für gewaltlose Aktivitäten, in Russland zur wichtigsten Methode geworden sind, das Sozium zu lenken, für das „social engineering“, und jetzt ist es vor allem das probate Mittel, um die Anti-Kriegs-Bewegung zu unterdrücken.

Es gibt über fünfzig solcher Strafverfahren (58 nach Art. 207.3 in verschiedenen Stadien, Stand 10. Juli), aber diese Repressionen betreffen indirekt auch jene Tausende von Menschen, die administrativ zu Ordnungsstrafen verurteilt wurden, was an die spätsowjetische Praxis der „Prophylaxe“ erinnert. Aber eine solche „Prophylaxe“ ist, wie Jurij Andropov beim Politbüro nachwies, nicht effizient, wenn sie nicht mit einer fortgesetzten strafrechtlichen Verfolgung, mit Lagern, Gefängnissen und „Psychuschkas“ (psychiatrischen Kliniken) einhergeht.

Dieser Kontext, diese Umstände werfen ein anderes Licht auf die Zahl der politischen Gefangenen im heutigen Russland – das sind etwa fünfhundert. Ist das viel oder wenig? Wenn diese Repressionen irgendein Ziel haben, dann besteht das darin, nicht „alle einzusperren“, sondern „nicht viele einzusperren, aber alle zu kontrollieren“.

Wenn man von „Kontrolle“ spricht, müssen auch solche systembedingten Faktoren einbezogen werden wie Folter und grausame Behandlung (während der Ermittlung wie in Haft) sowie die Praxis politischer Morde (die in Russland in gewissem Sinn die in der UdSSR bestehende Todesstrafe ersetzt haben).

Die „Prophylaxe“ ist ohne Strafverfolgung unwirksam, eine Kontrolle über die Gesellschaft ist ohne Repressionen nicht möglich, der Krieg ist ohne sie nicht möglich.

Und das letzte. Die Zahl der Kriegsgefangenen und gewaltsam in Russland festgehaltenen ukrainischen Staatsbürger beträgt über 6.000 Personen. Die ukrainischen Kriegsgefangenen sitzen zwar von den anderen getrennt, aber doch in den gleichen Gefängnissen. Sie werden von denselben Ermittlern verhört. Und sie werden genauso gefoltert wie bisher schon die russländischen Staatsbürger.

Repressionen sind die notwendige Voraussetzung des Krieges. Folter und politische Morde sind die Bedingung für die Effizienz der Repressionen. Der Kampf für die Freiheit der politischen Gefangenen, gegen Folter und politische Morde in Russland ist somit ein notwendiger Bestandteil des Kampfes für den Frieden.

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