Kinder der Ukraine im künftigen Krieg mit der Russischen Föderation
Gestellungsbefehle im Voraus
In den zeitweilig besetzten ukrainischen Gebieten, die die Russische Föderation (RF) kontrolliert, werden Jugendlichen Einberufungsbescheide für 2025 ausgehändigt. Dies teilte „Donbass Realii“ am 20. Juli in seinem Telegram-Kanal mit.
„Nach einer ärztlichen Untersuchung kamen Leute aus dem Rekrutierungsbüro und gaben militärische Registrierungsbescheinigungen aus“, berichtet ein junger Mann, dem es gelungen ist, das russisch besetzte Gebiet zu verlassen. Zugleich mit diesen Bescheinigungen überreichten die Besatzer ein Dokument, in dem es hieß, man habe 2025 beim Rekrutierungsbüro zu erscheinen. Danach suchten die Angehörigen des Jugendlichen nach Wegen, in die freie Ukraine zu gelangen. „Ich wollte nicht für die Interessen Russlands sterben, ich wollte leben“, betonte der junge Mann.
Miroslava Chartschenko, eine Juristin der gemeinnützigen Stiftung „Save Ukraine“, berichtete Journalisten, wie Vertreter des russischen Einberufungszentrums und aktive Soldaten der russischen Streitkräfte die Schule des oben genannten Jugendlichen aufsuchten. Die russischen Soldaten hätten den Kindern erzählt, wie gut es sei, in der russischen Armee zu dienen und Ukrainer zu töten, erzählte die Juristin. Am Ende ihres Vortrags hätten die russischen Soldaten der gesamten Klasse Einberufungsbescheide für 2025 überreicht. „Sie gaben ihnen dieses russische Heft, das bestätigt, dass sie bereits wehrpflichtig seien und ‚gehen und für Putin sterben‘ müssten“, so Miroslava.
Aus „Erholungslagern“ in die russische Armee
Neben der vorzeitigen Aushändigung der Einberufungsbescheide holt man ukrainische Kinder auch unmittelbar aus sogenannten „Erholungslagern“ in die russische Armee. Der junge Mann, der mit Journalisten von „Donbass Realii“ gesprochen hat, berichtet von etwa 20 Kindern, die ihm bekannt sind und die davon betroffen waren. Nach seinen Worten wurden die Kinder zunächst in ein „Erholungslager“ auf der besetzten Krym gebracht. Von dort ließ man die Jugendlichen nicht mehr fort, angeblich weil es in ihren Heimatstädten und -dörfern weiterhin zu Kampfhandlungen komme. Eine Zeitlang verblieben die Kinder im Lager, dann wurden sie in ein Sanatorium gebracht. Als sie 18 Jahre alt wurden, trugen die Besatzer sie ins Militärregister ein und brachte sie zur russischen Armee, berichtet der Mann.
Von Kindern, die erfolgreich aus sogenannten „Erholungslagern“ in die Ukraine zurückgebracht werden konnten, berichtet auch Julia Sydorenko, die Leiterin des Zentrums „Hoffnung und Genesung“. Ihren Angaben zufolge sind ukrainische Kinder in russischen „Erholungslagern“ psychologischer und physischer Gewalt ausgesetzt. „Es ist furchtbar, wenn ein 15- oder 16-jähriges Kind kommt und sagt: ‚Nach dem, was ich gesehen habe, will ich nicht mehr leben‘“, betont Julia Sydorenko.
Zuvor hatten Journalisten des „Telegraph“ bestätigt, dass in sogenannten „Erholungslagern“ versucht wird, die Kinder umzuerziehen. Kinder, die sich dem widersetzen, werden geschlagen.
Nach Julias Worten kehren viele Eltern mit 16- und 17-jährigen Kindern jetzt in die freie Ukraine zurück, weil sie ihre Kinder vor der russischen Armee bewahren wollen. Mit jedem Monat würden es mehr.
Illegale Mobilisierung und zwangsweise Ausgabe russischer Pässe
Russland versucht schon lange, Kinder in russisch besetzten Gebieten zum Krieg gegen ihr eigenes Land heranzuziehen. Nennen wir nur ein paar Beispiele, von denen die Charkiver Menschenrechtsgruppe schon früher berichtet hat. Im Juni dieses Jahres teilte „Hromadske radio“ mit, Schüler in den zeitweilig besetzten Gebieten von Zaporizhzhia, Cherson, Luhansk und Donezk seien ins Gebiet Volgograd gebracht worden, um den Umgang mit Schusswaffen zu erlernen. Im Januar 2024 bestätigten belarusische Staatsmedien, dass 35 ukrainische Kinder aus der zeitweilig besetzten Stadt Antrazyt im Gebiet Luhansk in die belarusische Stadt Mogiljov (Mahiljou) geschickt worden waren. Dort sollten sie im Zentrum des Ministeriums für Katastrophenschutz eine „Schulung“ absolvieren.
Im Dezember 2023 wurde bekannt, dass russische Besatzungskräfte Jugendliche, die in Mariupol lebten, erfassen wollten. In den zeitweilig besetzten Gebieten der Ukraine richtet Russland ein Netz von Institutionen ein, das dafür wirbt, sich der Armee der RF anzuschließen und das den Krieg gegen die Ukraine verherrlicht. Die offene, verdeckte und gewaltsame Mobilisierung, die Russland in den zeitweilig besetzten Gebieten betreibt, verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht, insbesondere gegen Artikel 51 der IV. Genfer Konvention. Dem Besatzerstaat ist es untersagt, die Zivilbevölkerung auf besetztem Territorium zum Dienst in den Streitkräften (oder Hilfsdiensten) des Besatzerstaates zu nötigen: „Jeder Druck oder jede Propaganda, die auf freiwilligen Eintritt in die bewaffneten Kräfte oder Hilfsdienste abzielt, ist verboten.“ Die Einberufung von Einwohnern zeitweilig besetzter Territorien in die Besatzungsarmee ist ein Kriegsverbrechen.
Artikel 45 der IV. Konvention betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs erklärt eindeutig: „Es ist untersagt, die Bevölkerung eines besetzten Gebiets zu zwingen, der feindlichen Macht den Treueid zu leisten.“ Russland versucht jedoch ständig, Einwohner der zeitweilig besetzten Gebiete zu zwingen, gegen ihr eigenes Land zu kämpfen. Die Russische Föderation greift zu unzulässigen Maßnahmen: Sie setzt Kriegsgefangene unter Druck, und sie bedroht Eltern, die für ihre Kinder keine russische Staatsbürgerschaft ausstellen lassen wollen. Am 19. Juli dieses Jahres, als es gelang, 12 Kinder in die Ukraine zurückzubringen, die in besetzten Teilen der Gebiete Donezk, Zaporizhzhia und Cherson gelebt hatten, sprach Dmitrij Lubinez von dem Druck, dem Kinder und ihre Angehörigen ausgesetzt waren. Die Besatzer „zwangen ihnen russische Pässe“ auf. Ohne diese wurden Einwohner der zeitweilig besetzten Gebiete rechtlos, aller sozialen Sicherheiten beraubt und ohne medizinische Versorgung. Ohne russische Pässe „nehmen Ärzte nicht einmal Kinder mit angeborenen Krankheiten an, die einer sorgfältigen Betreuung bedürfen“, berichtete der Menschenrechtsbeauftrage Lubinez. Die Besatzer böten an, die Kinder in eine sogenannte „Rehabilitation“ zu schicken, die häufig nichts anderes sei als eine Deportation oder Zwangsumsiedlung.
Außerdem schicken Vertreter der RF gezielt ukrainische Kinder in russische Lager, zwingen dann ihre Eltern, persönlich anzureisen, um sie zu abholen und bedrängen die ukrainischen Familien, in entlegene Regionen der RF zu ziehen. Zugleich werden in den zeitweilig besetzten Gebieten Russen angesiedelt. Auf diese Weise führt Russland hier einen Bevölkerungsaustausch durch.
Ende Dezember 2023 hat die Charkiver Menschenrechtsgruppe dem Büro des Staatsanwalts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) eine neue Eingabe übermittelt: „Die gewaltsame Überstellung von Kindern aus der Ukraine nach Russland ist ein Genozid“. Es geht darum, das Büro des Staatsanwalts des IStGH dazu zu veranlassen, das bereits eingeleitete Verfahren nach Artikel 8 des Römischen Status („Kriegsverbrechen“) umzuqualifizieren in eines nach Artikel 6 (Genozid).