Stimmen des Krieges: „Meine Enkel weinten und sagten, sie wollen nicht sterben. “

Chronik der ersten Kriegstage aus Charkiv.
Taras Vijtschuk27. April 2023UA DE EN ES FR IT RU

Надія Браташевська Nadija Brataschevska Nadiya Bratashevska Надежда Браташевская

Nadija Brataschevska

Am 24. Februar wachten wir um halb fünf Uhr morgens von schrecklichen Explosionen auf. Unser Haus bebte, wir sprangen auf und rannten zu den Kindern, wir hatten alle furchtbare Angst, aber wir wussten noch nicht, was passiert. Wir schauten zum Fenster raus, da brannte alles und war voller Rauch. Dann wurde es ein bisschen ruhiger, aber wir verstanden, dass der Krieg begonnen hatte. Wir fingen an, die Kinder zu versammeln, weil wir wussten, jetzt würde es losgehen. Wir schickten unsere Kinder und Enkelkinder weg, aber mein Mann und ich blieben zu zweit dort, weil wir das Haus nicht verlassen wollten.

Wo versteckten Sie sich, während die Stadt beschossen wurde?

Es war vom ersten Tag an furchtbar, wir gingen in den Keller, weil der Beschuss jede Minute ohne Vorwarnung losgehen konnte. Die Kinder fuhren weg und wir blieben im Keller. Wir verbrachten dort zwei Monate: Wir hatten große Angst, ins Haus hochzugehen. Kaum bewegt man sich nach oben, bebt das Haus von dem Beschuss, man bleibt neben dem Aufzugsschacht stehen und wartet, bis das Geschoss vorbeigeflogen ist, dann steigt man in die nächste Etage. Bis man von der siebten Etage in den Keller gelaufen ist, dauert es ein halbes Leben. Im Keller war es etwas ruhiger, aber trotzdem schrecklich. Die Explosionen wurden immer mehr und mehr. Selbst im Keller zu sitzen war grässlich, weil wir Angst hatten, dass das Haus einstürzt und wir nicht mehr raus können.

Wurde es schwierig für Sie, Lebensmittel und Medikamente zu kaufen?

Wir wollten essen, natürlich. Man hatte humanitäre Hilfe gebracht, aber die zu holen war auch grauenvoll. Alle halbe Meter betete ich zu Gott. Wenn etwas kommt, drückt man sich an die Wand, wartet, dass die Granate vorbeifliegt oder einschlägt, man wartet ab. Wir haben humanitäre Hilfe bekommen und sind schnell durch Schnee und Eis wieder zurückgelaufen. Man rennt, betet zu Gott, dass man es bis zu irgendeinem Keller schafft. Am Anfang war das Geschäft noch geöffnet, sehr viele Leute standen dort in der Schlange, so um die zwei Stunden lang.

Dann wurde genau dieses Geschäft beschossen und ein Geschoss schlug ein. Es wurden dort, glaube ich, zwei Menschen getötet, ein Mann und eine Frau, und viele wurden verletzt.

Das Geschäft schloss natürlich, weil man Menschenansammlungen vermeiden wollte. Zur Apotheke zu gehen, war auch entsetzlich. Kaum geht man los, fängt der Beschuss an. Man weiß nicht, wohin man sich legen, wohin man laufen, was man machen soll. Entweder hageln Fenster auf dich oder ein Haus stürzt ein.

Haben Sie Zerstörungen in Ihrer Stadt erlebt?

Natürlich. Viele Häuser wurden zerstört, Geschäfte und Kioske. Alles war zertrümmert, alles voller Scherben. Für fünf Minuten in die Wohnung zu gehen, um sich umzuziehen oder einen Tee zu kochen, war schrecklich.

Wie sind Sie aus der Stadt herausgekommen?

Zuerst wurde angekündigt, dass es am Bahnhof Evakuierungsbusse geben würde. Aber wir hatten immer noch Hoffnung. Dann wurden Wasser- und Stromversorgung abgestellt. Unsere Versorgungsunternehmen versuchten, das alles zu reparieren, aber nach einer Weile beschossen die Russen wieder die Infrastruktur und alles brach zusammen. Als es dann weder Wasser noch Licht und Gas gab, gab es keinen Ausweg mehr. Sie versuchten, die Menschen mit dem Zug raus zu bringen, weil die Busse Angst hatten, so viele Menschen zu transportieren. Freiwillige mit Autos begannen zu helfen: Morgens so zwischen sechs und sieben Uhr versuchten sie, mit Autos durchzukommen und brachten die Menschen zum Bahnhof.

Waren Sie auf den Krieg vorbereitet?

Wir hatten Nachrichten gelesen und gehört, dass an der Grenze russische Truppen stehen, aber daran geglaubt haben wir bis zum letzten Moment nicht. Wir dachten, dass es im Donbas wieder Kämpfe geben wird, aber dass sie die ganze Ukraine bombardieren würden — das hatten wir nicht geglaubt. Meine Verwandten und die Verwandten meiner Bekannten leben in Belgorod. Wir alle wollten das nicht glauben, aber leider …

Und so begann dann um halb fünf morgens am 24. Februar der Krieg. Ich erinnere mich, wie die Kinder schrecklich erschraken und anfingen zu weinen. Mein Schwiegersohn beugte sich über die Kinder und bedeckte sie so, für den Fall, dass etwas passieren würde. Und meine Enkelin sagte zu ihm: „Papi, wir wollen nicht sterben!“

Ich kann gar nicht mehr daran denken. So etwas hat fast jede Familie durchgemacht. Ich hatte keine Angst um mich selbst, nur um meine Kinder und Enkel. Wenn man im Fernseher vom Krieg hört, ist das eine Sache. Aber wenn das alles direkt bei dir stattfindet, wenn alles erbebt und dir der Putz auf den Kopf fällt — das ist grauenvoll.

Artikel teilen