Einsatz von Kleinwaffen im russisch-ukrainischen Krieg
In den zeitweilig besetzten und frontnahen Territorien setzen die russländischen Truppen intensiv Kleinwaffen gegen die Zivilbevölkerung ein. In fast allen Fällen handelt es sich um vorsätzlichen gezielten Beschuss. Der Täter ist sich dabei seines Handelns bewusst, er wünscht negative Folgen für das Opfer oder nimmt sie bewusst in Kauf, d. h. er handelt vorsätzlich. Das Vorhandensein des Vorsatzes unterscheidet diese Taten von anderen Kriegsverbrechen, unter anderem von ungezieltem Beschuss, wenn der Täter negative Folgen lediglich zulässt, sie aber nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit hinsichtlich eines bestimmten Opfers voraussehen kann. Deshalb wird Beschuss aus Kleinwaffen als schwereres Kriegsverbrechen eingestuft.
Im Zeitraum vom 24. Februar bis zum 9. August 2022 hat die Koalition „Tribunal für Putin“ folgende Kriegsverbrechen verzeichnet, bei denen Kleinwaffen zum Einsatz kamen:
- Vorsätzliche Tötung einer Zivilperson (Artikel 8, Abs. 2 a, I oder Artikel 7, Abs. 1 a des Römischen Statuts).
- Vorsätzliche Körperverletzung einer Zivilperson (Artikel 8, Abs. 2 a, III des Römischen Statuts).
- Zerstörung oder Beschädigung von Eigentum (Artikel 8, Abs. 2 b, IV des Römischen Statuts).
Die Koalition hat 367 Fälle festgehalten, in denen Kleinwaffen gegen Zivilpersonen oder zivile Objekte eingesetzt wurden. Sie sind den folgenden Kategorien von Kriegsverbrechen zuzuordnen:
Vorsätzliche Tötung — 33%
Vorsätzliche Körperverletzung — 22%;
Zerstörung oder Beschädigung von Eigentum — 45%.
Die meisten Kriegsverbrechen waren komplex, sie führten zu menschlichen sowie zu materiellen Verlusten.
Russländische Truppen begingen 166 vorsätzliche Tötungen, 195 Menschen kamen dabei ums Leben, sowie 119 vorsätzliche Körperverletzungen — 144 Personen wurden verletzt. Wir haben keinen einzigen Fall verzeichnet, in dem hinreichend erwiesen wäre, dass ukrainische Streitkräfte vorsätzlich Zivilpersonen unter Beschuss genommen hätten. Lediglich in einem Fall wurde nach der subjektiven Meinung eines Angehörigen des Opfers eine Frau von ukrainischen Soldaten an einem Kontrollposten irrtümlich getötet. Außerdem wurden einige Fälle festgehalten, in denen Zivilisten bei einem Schusswechsel zwischen ukrainischen und russländischen Soldaten bei Straßenkämpfen zu Schaden kamen.
Die meisten der 135 Personen, die von russländischen Soldaten getötet wurden, kamen beim Versuch der Evakuierung ums Leben. Das Szenario des Verbrechens ist typisch, unabhängig von der Region des Geschehens. In einer zeitweilig besetzten Ortschaft oder in einer so genannten grauen Zone versuchten Einwohner im eigenen Auto selbstständig oder in einer Kolonne das gefährliche Territorium zu verlassen, ohne dass ein grüner Korridor zugesagt oder sogar wenn einer angekündigt worden war. Auf der Fahrt stießen sie auf ein Fahrzeug mit russländischen Soldaten oder sie mussten einen Kontrollpunkt passieren. Die russländischen Soldaten eröffneten ohne Vorwarnung das Feuer auf Zivilfahrzeuge. Viele kamen dabei ums Leben, einige wurden verwundet, und die Fahrzeuge wurden natürlich beschädigt. In einigen Fällen wurden die Menschen neben ihren Autos erschossen, obwohl sie nach Augenzeugenberichten mit erhobenen Händen auf die russländischen Soldaten zugegangen waren.
Die russländischen Soldaten haben das Feuer wahrscheinlich gezielt auf die Autos von Zivilisten eröffnet und versucht, ihnen möglichst viel Schaden zuzufügen. Zu diesem Schluss kann man kommen, wenn man die Zahlen der beim Beschuss Getöteten und Verwundeten vergleicht. Wie gesagt, kamen in 86 Fällen 135 Personen ums Leben, während in 55 Fällen 91 Personen verletzt wurden. Somit war es um 1.42 Mal wahrscheinlicher, beim Beschuss des Autos umzukommen als verletzt zu werden, aber zu überleben.
Beim Beschuss aus Kleinwaffen beschädigten die russländischen Soldaten in 124 Fällen 146 Fahrzeuge, die meisten davon irreparabel. Es handelte sich meist um Autos von Zivilisten, aber auch um Rettungsfahrzeuge, Postautos oder landwirtschaftliche Fahrzeuge.
In einigen Fällen wurden mehrere Personen beim Beschuss von Zivilfahrzeugen getötet. Im höchsten Fall kamen gleichzeitig sieben Personen ums Leben.
Zu Angriffen auf Zivilfahrzeuge in Ortschaften und auf Strecken dazwischen kam es in den Gebieten Kyjiv, Donezk, Charkiv, Luhansk, Tschernihiv, ,Cherson, Zaporizhzhia und Mikolajiv, also in allen Gebieten, in denen russländische Soldaten die physische Möglichkeit dazu hatten.
In Mariupol, Gebiet Donezk, wurden in drei Fällen Zivilpersonen durch russländische Scharfschützen getötet. Das Verbrechen hatte keinen systematischen Charakter und ist für andere Regionen nicht typisch, wenngleich Zivilpersonen auf Ortsstraßen in allen Regionen mit Kampfhandlungen sowie in allen zeitweilig besetzten Gebieten von Soldaten beschossen wurden.
Wir haben 5 Fälle von Beschuss auf der Straße mit tödlichem Ausgang verzeichnet (10 Personen verloren ihr Leben) und 6 Fälle, in denen Personen verletzt wurden (7 Verletzte). Die Angriffe auf Zivilpersonen auf den Straßen erfolgten ohne relevantes erkennbares Motiv und sollten offenbar dazu dienen, die örtliche Bevölkerung durch Terror einzuschüchtern.
In Orten, in denen die Einwohner aktiven Widerstand gegen die russländischen Besatzungsmächte leisteten, wurden bei friedlichen Protestkundgebungen Schusswaffen eingesetzt, mit einem Todesopfer und 21 Verletzten. Ziel war natürlich die Unterdrückung der Widerstandsbewegung in den besetzten Gebieten.
Tötungen und Körperverletzungen von Zivilpersonen in ihrer eigenen Wohnung sind relativ selten. Wir haben insgesamt 7 Fälle vorsätzlicher Tötungen verzeichnet, bei denen 20 Personen ums Leben gekommen sind. Lediglich in zwei Fällen kam es zu Körperverletzung (zwei Personen). Motive für die Verbrechen waren die politische Aktivität der Opfer, ihre Weigerung, mit den Besatzungsmächten zu kooperieren oder ihre frühere Berufstätigkeit.
In 17 Fällen vorsätzlicher Tötungen und 20 Fällen vorsätzlicher Körperverletzung ließen sich die Umstände bisher nicht klären.
Durch Beschuss aus Kleinwaffen wurden etliche zivile Objekte beschädigt, vor allem Wohnhäuser (47), ebenso 11 geschäftliche Objekte, meist Pavillons und Marktbuden. Außerdem wurden historische Denkmäler beschossen, insbesondere Soldaten-Denkmäler, Gedenkorte an Opfer des Zweiten Weltkriegs usw. Vereinzelt wurden staatliche Einrichtungen unter Beschuss genommen (2 Fälle), Krankenhäuser (1 Fall), Schulen und Kindergärten (3 Fälle), kulturelle Einrichtungen (1 Fall), Kultgebäude (1 Fall), Objekte kritischer Infrastruktur (1 Fall).
Somit setzen die russländischen Truppen die gezielte Vernichtung der ukrainischen Bevölkerung in den zeitweilig besetzten Gebieten und den Zonen aktiver Kampfhandlungen fort. In ihrem Vorgehen gibt es kein erkennbares und generelles Motiv außer dem Terror gegen die örtliche Bevölkerung und der Unterdrückung von Widerstand. Massenerschießungen großer Gruppen von Ukrainern wurden nicht verzeichnet. Allerdings legen die systematischen vorsätzlichen Tötungen und Körperverletzungen mit gleichartiger Vorgehensweise nahe, dass es eine klare Anweisung der obersten russländischen Militärführung gibt, Menschen gezielt zu vernichten.