Oksana Stomina: Das ist mittelalterliche Grausamkeit, vervielfacht durch die heutigen Möglichkeiten und krankhaft-manische Ambitionen
Heute spricht man meistens über Mariupol. Angesichts der Tragödie, die sich dort abspielt, wird es als „Stadt der erschossenen Gottesmutter“ bezeichnet. Mariupol ist zum Symbol für den Ukrainozid geworden, den Raschisten auf ukrainischem Boden begehen. Man nennt es auch das „Guernica des 21. Jahrhunderts“ und vergleicht es mit dem syrischen Aleppo, an dessen Zerstörung Russland ebenfalls beteiligt war.
Die Adern gefrieren einem, und es läuft einem kalt den Rücken hinunter, wenn man die Erzählungen von Augenzeugen über die Schrecken des Krieges in einer der schönsten Städte unseres Asov-Gebiets zu hören bekommt.
Es ist kaum vorstellbar, wie unsere Gesprächspartnerin dies alles überlebt hat, eine kleine, schmächtige, aber bewundernswert tapfere Frau, die Dichterin, Aktivistin und Freiwillige Oksana Stomina.
Wenn man mit ihr spricht, sieht und spürt man, trotz allem, was sie durchgemacht hat, den Mut, die ungewöhnliche Geisteskraft und die Unbeugsamkeit, die diese unsere bewundernswerte Zeitgenossin auszeichnet.
Oksanas Erzählung ist ein authentisches Zeitdokument, ein Zeugnis von Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zentrum des Kontinents, im 21. Jahrhundert. Sie bestätigt, dass es für die Verbrechen Russlands kein Verzeihen geben kann und auch keine Kompromisse mit den Putinschen Kriegsverbrechern.
Sie haben soeben gesagt, dass Sie in den letzten Tagen „weniger geworden sind“. Was meinen Sie damit?
Die Jeans sind mir zu weit geworden. Aber es geht ja nicht darum, dass es nichts zu essen oder irgendwas anderes nicht gab. Es geht darum, dass ich in diesen Tagen gealtert bin. Meine Tochter sagte, „meine einzige Hoffnung war, dass du klein bist, so dass man Dich nicht so leicht treffen kann“. Wahrscheinlich habe ich deshalb abgenommen, damit man mich nicht so leicht treffen kann (lacht). Aus irgendeinem Grund scheint mir das in meinem Inneren so.
Stammen Sie aus Mariupol?
Ja, ich bin in Mariupol geboren. Meine ganze Familie ist aus Mariupol, meine Großeltern sind dort begraben. Meine Tochter ist dort geboren. Wissen Sie, sie hat mir sehr geholfen, diese tragischen Tage auszuhalten. Ich hatte das Gefühl, sie würde mir die ganze Zeit über die Hand halten. Sogar dann, wenn es gar keine Verbindung gab, spürte ich sie gewissermaßen neben mir. Dann hat sie mir geholfen, die Stadt zu verlassen, eine Route zusammenzustellen, sie hat herausgefunden, wo es am sichersten ist. Obwohl von Sicherheit keine Rede sein kann, wenn man von Mariupol spricht und von einem Weg aus Mariupol. Alles bewegte sich zwischen „sehr gefährlich“ bis zur vollständigen Katastrophe. So in etwa war das.
Wie sieht Mariupol jetzt aus?
Die Stadt ist komplett in Ruinen
In der letzten Zeit hatten wir viel in der Stadt getan. Es ist sehr viel gebaut worden. Ich liebe Mariupol sehr. Ich habe immer gesagt, dass jeder Mensch selbst seine Stadt um sich herum baut. Und so habe ich mein ganzes Leben an dieser Stadt gebaut – ich habe die besten Menschen um mich versammelt, denen ich vertrauen kann, und habe nach interessanten historischen Stätten und bestimmten Information über sie gesucht.
Ich habe etwas für meine Stadt getan, und sie hat etwas für mich getan. Und jetzt hat man sie einfach dem Erdboden gleichgemacht. Es gibt keinen lebenden Ort mehr, überall Einschläge oder Brände.
Praktisch ist jedes Haus betroffen. Die Stadt besteht nur noch aus Ruinen.
Was haben Sie selbst unmittelbar erlebt?
Wir hatten acht Jahre in der Nähe des Kriegs gelebt und uns irgendwie daran gewöhnt, dass das bei uns so ist. Aber das, was ich jetzt gesehen habe, lässt sich mit nichts mehr vergleichen. Das ist ein Thema für einen Horrorfilm, in dem an Stelle eines blutsaugenden Drakula Putin und seine Soldaten stehen, die aus irgendeinem Grund zu der Auffassung gekommen sind, es sei richtig, in solchem Ausmaß Menschen umzubringen. Das ist schrecklich, es ist eine mittelalterliche Grausamkeit, noch vervielfacht durch die modernen Möglichkeiten und krankhafte, manische Ambitionen.
Wann und wie haben sie Mariupol verlassen?
Ich habe Mariupol am 16. März verlassen. Wir waren sehr lange unterwegs. Am 20. oder 21. war ich wahrscheinlich schon hier.
„Mein Mann zwang mich buchstäblich, ins Auto einzusteigen“
Wir waren lange unterwegs, weil wir vier Autos benützten. Eines davon war komplett zerstört, daran war buchstäblich nichts mehr intakt. Dann hatten wir den alten „Zhiguli“ unserer Eltern, den mein Mann einer jungen Familie überlassen hatte, damit sie fliehen konnte. Wir waren nicht wenige, obwohl ich nicht gezählt habe, mehrere Familien, mit vielen Kindern. Wir fuhren spontan los. Lange konnten wir uns nicht entschließen, aber irgendwann verlor die Familie des Bruders meines Mannes die Nerven, sie konnten das alles nicht mehr aushalten und brachen auf, setzten sich einfach ins Auto und fuhren zu mir. Und mein Mann bestand darauf, dass ich mitfuhr, er zwang mich buchstäblich, ins Auto einzusteigen. Er ließ mich nicht einmal mehr in unsere Wohnung. Deshalb habe ich nur ganz wenige Sachen mitgenommen, in einem kleinen Rucksack von fünf Litern. Mein Notebook mit Aufzeichnungen ließ ich zurück (ich wäre damit kaum durchgekommen, wenn man mich irgendwo an einem Checkpoint angehalten hätte). Allerdings habe ich unser Souvenir von Mariupol mitgenommen – das habe ich immer dabei. Das ist eine kleine Kopie eines Tetrapod. Seinerzeit wurden solche Konstruktionen in der Stadt aufgestellt, um die Uferlinie zu verstärken, dann hat man die grauen Gebilde bemalt, und die Tetrapode wurden zu einem beliebten Souvenir als Symbol von Mariupol.
Ich wäre wahrscheinlich noch dageblieben, weil ich meinte, ich müsste dort sein, solange es noch irgendeine Hoffnung gab und ich noch irgendwas für jemanden, für meine Mariupoler tun konnte.
Aber an dem Tag, an dem ich abfuhr, war schon klar, dass alle, die dort blieben – ich meine jetzt nicht Militärs, sondern Zivilisten wie mich, schon nichts mehr ausrichten konnten, sondern die Soldaten im Gegenteil eher noch behinderten.
Was weiß man über die Menschen, die in der Stadt geblieben sind?
Es gibt viele Menschen, von denen wir nichts Genaues wissen. Vor einigen Tagen kam eine Nachricht, die noch nicht bestätigt wurde, deshalb beten und hoffen wir, dass diese Bestätigung nicht kommen möge. Sie betrifft die Großmutter der (ersten) Frau meines Mannes, der mich herausgebracht hat. Sie war zu Hause geblieben, praktisch hat sie ihr Haus nie verlassen, sie konnte sich nicht ohne Hilfe fortbewegen. Und sie war zu Hause, als das Haus abbrannte. Und wir wissen noch nicht was aus ihr geworden ist …
„Er ist zweimal gestorben“
Es gibt viele ähnliche Nachrichten. Vor kurzem habe ich erfahren, dass unser Freund, ein sehr patenter, anständiger, ehrlicher, gerechter und guter Mensch, Vitja Dedov, der im örtlichen Fernsehprogramm und im Kanal „Sigma“ gearbeitet hat, in der Küche seines eigenen Hauses ums Leben gekommen ist. Ja, eigentlich ist er zweimal gestorben. Da es praktisch keine Möglichkeiten zur Bestattung gab, blieb der Leichnam einige Tage zu Hause liegen, und nach zwei oder drei Tagen kam ein weiterer Angriff, und das Haus brannte ab. Seine Eltern waren zu dieser Zeit im Schutzbunker, sie kamen erst ins Haus, als es schon den Flammen zum Opfer gefallen war. Sie konnten die Tür nicht öffnen, und Viktors Leichnam verbrannte.
„Über den Krieg muss man gerade so erzählen: über konkrete Geschichten von Menschen, Geschichten aus erster Hand“
Das sind solche Geschichten, sehr schlimme. Wissen Sie, mir scheint, dass man eben genau so vom Krieg erzählen muss: über einzelne Geschichten, nicht über Gesamtzahlen, nicht einmal über die Zahl der Umgekommenen. Denn für einen Menschen, der so etwas nicht selbst erlebt, der es nicht auf sich, auf sein Leben und das seiner Angehörigen bezieht, für so jemanden ist das im Großen und Ganzen oft alles einerlei: ob es zehn Menschen oder ein Mensch oder Hunderte betrifft. Oder Tausende – er hat gar keine Vorstellung vom Ausmaß. Und wenn man erzählt, wie die Menschen im Hof von einer Bombe getroffen wurden, wie dem Mann, dem Vater meiner Bekannten, die Hand abgerissen wurde, wie er diese Hand nahm und sich auf die Suche nach einem Krankenhaus begab…. Und dass ihn danach niemand mehr gesehen hat…. Das sind Geschichten aus erster Hand. Das sind reale Fakten.
Ich möchte davon erzählen, dass diese furchtbaren Menschen, diese Tiere, nicht einfach getötet haben: sie haben die Opfer erst gejagt und dann umgebracht. Wenn z. B. ein Theater, ein Schwimmbad oder eine Kunstschule angegriffen wurde, dann waren dies alles Orte – und alle wussten das – wo sich Menschen aufhielten, die schon ihre Häuser verloren hatten. Dort befanden sich auch Verwundete, Kinder mit ihren Müttern, Neugeborene, da waren Behinderte aus Bezirken, die gleich zu Anfang unter Beschuss geraten waren und die wir gerettet hatten, vom Linken Ufer, aus Vostotschnyj. Und dann jagten sie sie erneut, und versuchten immer wieder, sie umzubringen. So haben sie wieder und immer wieder versucht, Menschen zu töten, die versucht haben, aus der Stadt herauszukommen.
Meine Freundin, mit der ich gemeinsam im Freiwilligenzentrum gearbeitet hatte, fuhr mit ihrer Familie mit dem Auto auf dem so genannten grünen Korridor. Das Auto wurde angegriffen, fünf Personen wurden verletzt, und ein Kind befindet sich immer noch in der Intensivstation. Das ist eine gezielte Vernichtung von Menschen. Das ist nicht Krieg, das ist Mord.
Warum gerade mit Mariupol?
„Wir haben sie in Rage versetzt“
Als alles in Kyjiv und Charkiv anfing, da hatte ich ehrlich gesagt sofort den Gedanken – möge es doch Mariupol treffen. Wir sind schon hier, wir wissen schon, wie das ist. Möge es uns treffen, damit es nicht die ganze Ukraine erfasst. Wir sind hier, wir sind an der Grenze, wir haben uns vorbereitet, wir haben die Ostgrenzen der Stadt und gleichzeitig die der Ukraine gesichert. Aber natürlich hatte ich keine Vorstellung davon, was kommen würde…
Warum Mariupol? Wir wusste alle, dass unsere Stadt von strategischer Bedeutung ist. Außerdem hatten wir sie wahrscheinlich in Rage versetzt. Weil wir standgehalten hatten, wir hatten sogar während des Krieges gebaut, die Stadt verschönert, und wir waren stolz darauf. Während das alles passierte, fragte ich mich: Wer sind diese Menschen, die gekommen sind, um zu zerstören?
Ich lebe in einer Stadt am Meer. Ich habe immer das Meer bei mir, ich habe immer ein Bild vom Meer. Es gibt Menschen, Kinder, Erwachsene, die Schlösser aus Sand bauen, und es findet sich immer jemand, der diese Schlösser zerstört. Je schöner ein Schloss ist, desto fanatischer wird jemand es zerstören. Wahrscheinlich haben sie so eine Natur, diese Fremden, wahrscheinlich hat ihnen das, was wir getan haben und wie wir lebten, keine Ruhe gelassen.
„Meine ersten Bücher über den Krieg wurden in mehrere Sprachen übersetzt“
Wie hat sich der Krieg auf Ihr Schaffen ausgewirkt?
Ich habe schon über diesen Krieg geschrieben und Bücher dazu herausgebracht. Sie wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Als es 2014 begann, fing ich erst nach einem Jahr an, darüber zu schreiben. Fast ein Jahr war ich wie erstarrt, ich konnte keine Gedichte schreiben. Jetzt schreibe ich auch keine Gedichte, sondern Prosa. Ich habe angefangen, im Schutzbunker, in völliger Dunkelheit, etwas aufzuzeichnen: Wir haben gespart, weil es nichts in der Stadt ab, es war und ist eine echte ökologische Katastrophe. Wir haben an Taschenlampen und Batterien sowie an Batterie-Aufladegeräten gespart, und auch an unseren Kerzen. Meistens saßen wir in völliger Dunkelheit, und ich habe unter diesen Bedingungen, oft mit dem Tastsinn, geschrieben und Notizen gemacht, denn ich glaube, dass das sehr wichtig ist. Aber bisher ist das nur Prosa.
Sagen Sie bitte etwas Genaueres zu Ihren Büchern. Ich weiß, dass einige von Anastasija Ponomareva illustriert wurden.
Es sind unterschiedliche Bücher. Einige behandeln den Krieg, darunter Gedichte, auf Ukrainisch und auf Russisch. Und Kinderbücher. Nastja hat Reiseführer illustriert – einen zu Mariupol und einen anderen zur Ukraine. Ich interessiere mich sehr für Geschichte, ich habe sogar an archäologischen Ausgrabungen in Mariupol teilgenommen. Und ich möchte, dass mehr Leute erfahren, dass Mariupol eine sehr interessante Stadt ist - insbesondere Menschen, die die Stadt besuchen, wie auch die Kinder, die hier aufwachsen – viele wissen nichts über ihre Heimatstadt. Und wir haben Spiel-Reiseführer gemacht – Bücher, in die man etwas hineinschreiben, in denen man etwas ausfüllen und notieren kann…
Das Gespräch führte Leonid Golberg
Oksana Stomina ist eine Dichterin und Aktivistin aus Mariupol. Sie lebt in Gedichten, lächelt immer, ist voller Ideen, sie inspiriert mit ihrer Fähigkeit, mitzufühlen und in allen Aktivitäten aufrichtig und authentisch zu sein.
Oksana Stomina lebt heute notgedrungen in Truskavets. Die Liebe zur Harmonie des gereimten Wortes und der Literatur wurde ihr durch ihre Eltern vermittelt. Sie wuchs mit den wunderbaren Versen ihrer Mutter auf. Das erste Buch, das Oksana mit ihrer Schwester Julia zusammen herausgab, war denn auch ein Band mit Kindergedichten ihrer Mutter, die beide auswendig kannten und leicht wiedergeben konnten. Oksanas Vater schreibt leichte und ironische Prosa. Er hat ein sehr interessantes Buch über seine erste Auslandsreise – nach Israel – verfasst.
Der Ausbildung nach ist Oksana Stomina Grundschullehrerin, Mathematikerin und Psychologin. Seit der Kindheit träumte sie davon, Lehrerin zu werden, aber, wie sie sagt, „der Mensch denkt und Gott lenkt“. Die Folge war, dass sie sich auch noch mit Versicherungen und Werbung beschäftigte.
Sie leidet sehr unter dem Krieg im Lande – im Jahre 2014 sowie im derzeitigen vollumfänglichen russischen Einmarsch. Derzeit arbeitet sie an einem Buch, in dem sie von dem, was sie erlebt und gesehen hat, von den Tragödien der Menschen in ihrer Nähe berichten will. „Das ist Geschichte, die man nicht vergessen darf“, sagt die Schriftstellerin, die versucht, ihren Beitrag zu unserem Sieg zu leisten und allgemein – zum Sieg des Friedens über den Krieg.
Jeder von uns ist im Weltall – nur ein Atom.
Ich weiß. Aber diese Augen, diese beiden Tiefen …
Gott, wenn Du ihn brauchst als Soldat
Gib ihm die Chance, aus diesem Krieg zurückzukehren.
Oh Gott! In der irrwitzigen irdischen Turbulenz
sind Begriffe und Gründe schon ohne Bedeutung
Weißt du, wenn er einen Schritt vom Tod entfernt ist –
Möge der Tod den jungen Menschen nicht bemerken!
Hinter der Brustwehr des Denkens schweigt der Kuckuck
und unter den Trümmern des Glaubens zeigt sich die Sonne nicht.
Aber mögen die Kugeln und Kanonen ihn aussparen –
Oh Gott, schicke ihm einen Schutzengel in seinen Schützengraben!
Wenn es wirklich für irgendetwas sein muss, vielleicht
möge ihn dann Deine rechte Hand nicht bestrafen?
Gott, lass ihn zuerst seinen Schuss abgeben,
Und – vergib es ihm, wenn all dies endet.