Russische Truppen haben nach dem 24. Februar 2022 in Mariupol einen Genozid begangen

Ziel des Kriegs der Russischen Föderation gegen die Ukraine ist die Vernichtung der ukrainischen Staatlichkeit sowie aller Personen, die dem Aggressor Widerstand entgegensetzen. Diese genozidale Absicht wird in den verschiedenen Regionen unterschiedlich umgesetzt. Der folgende Text behandelt den Genozid in Mariupol.
Jevhen Sacharov, Tetjana Samoderzhenkova26. Oktober 2022UA DE EN ES FR IT RU

Маріуполь, спустошений російськими загарбниками. Фото: Маріупольська міська рада Mariupol, durch russische Invasoren verwüstet. Foto: Stadtrat Mariupol Mariupol devastated by the Russian invaders (Photo: Mariupol City Council) Mariúpol devastada por los invasores rusos. Foto: Ayuntamiento de Mariúpol Marioupol dévastée par les envahisseurs russes, photo : Conseil local de Marioupol Mariupol’ devastata dagli invasori russi, foto: consiglio comunale di Mariupol’ Мариуполь, опустошенный русскими захватчиками, фото: Мариупольский городской совет

Mariupol, durch russische Invasoren verwüstet. Foto: Stadtrat Mariupol

Als Objekt eines Genozids behandeln wir hier eine nationale Gruppe – den Teil des ukrainischen Volks, der gegen den Aggressor-Staat Widerstand leistet. Zweifellos ist die so definierte Gruppe sowohl quantitativ als auch qualitativ von Bedeutung, sie umfasst sämtliche ukrainischen Eliten und den Hauptanteil der Bevölkerung der Ukraine. Die meisten Ukrainer kämpfen heute entweder unmittelbar gegen die Okkupanten oder unterstützen die Kämpfenden, soweit es ihnen möglich ist.

Nach der Genozid-Konvention ist ein entscheidendes Kriterium für die Qualifizierung eines Verbrechens als Genozid, dass ein unmittelbarer Vorsatz besteht, Mitglieder einer bestimmten Gruppe auszulöschen.

Es ist offenkundig, dass das Ziel der Russischen Föderation im Krieg gegen die Ukraine in der Vernichtung der ukrainischen Staatlichkeit und derjenigen Ukrainer besteht, die sich als Bürger der Ukraine verstehen und nicht willens sind, sich dem Aggressor-Staat unterzuordnen. Dieses Ziel konstituiert eine genozidale Absicht, die jedoch in den verschiedenen Regionen der Ukraine — in den Gebieten Mariupol, Kyjiv und Charkiv — auf unterschiedliche Weise umgesetzt wird. Deshalb sind wir der Auffassung, dass der Genozid für jede Region gesondert untersucht werden muss, unter Berücksichtigung ihrer Besonderheiten.

Dieser Artikel behandelt den Genozid in Mariupol.

Im Sinne der Konvention besteht die geschützte Gruppe hier aus ukrainischen Bürgern, die in Mariupol gelebt haben (etwa 450.00 Personen). in unserer Sicht treffen vier von fünf Kriterien des Genozids nach Artikel 2 der Genozid-Konvention auf den Fall Mariupol zu.

Ermordung von Angehörigen einer Gruppe

Die Stadt wurde seit dem 26. Februar belagert und war seit dem ersten Kriegstag ständig Artilleriebeschuss und Bombardements ausgesetzt. Dadurch kamen Tausende von Einwohnern ums Leben.

Die russischen Streitkräfte bombardierten zahlreiche Wohnhäuser, eine Geburtsklinik und ein Kinderkrankenhaus, in denen sich Frauen kurz vor der Niederkunft und Säuglinge befanden, ebenso das Theater, das Schwimmbad, Wohnheime und eine Kunstschule, wo die Menschen Zuflucht vor Bombenangriffen gesucht hatten.

Маріуполь. Розбомблений автомобіль біля уламків пологового будинку. Фото: Євген Малолєтка, Associated Press Mariupol. Zerbombtes Auto neben den Ruinen der Geburtsklinik. Foto: Jevhen Maloletka, Associated Press A gutted vehicle outside the ruins of Mariupol’s Maternity Hospital (Photo: Evgeniy Maloletka, AP) Mariúpol. Un coche carbonizado cerca de las ruinas del hospital de maternidad. Foto: Yevgeny Maloletka, Associated Press Marioupol. Une voiture bombardée près des décombres de la maternité. Photo : Evgueni Maloletka, Associated Press Mariupol’. Auto bombardata vicino alle macerie della clinica ostetrica. Foto: Evgenij Maloletka, Associated Press Мариуполь. Разбомбленный автомобиль возле обломков роддома. Фото: Евгений Малолетка, Associated Press

Mariupol. Zerbombtes Auto neben den Ruinen der Geburtsklinik. Foto: Jevhen Maloletka, Associated Press

Zum heutigen Datum sind nach Auskunft verschiedener offizieller ukrainischer Quellen 87.000 Zivilisten in Mariupol ums Leben gekommen.[1] Die Gesamtzahl dürfte erst bekannt werden, sobald man Zugang zur Stadt erhält.

Schwere Angriffe auf die körperliche und geistige Unversehrtheit von Angehörigen einer Gruppe

Die russischen Streitkräfte haben in Mariupol systematisch und gezielt Wohnhäuser, Schutzräume und Evakuierungsrouten angegriffen und dabei Zivilisten getötet. Während des Beschusses von Mariupol wurde eine erhebliche Anzahl von Menschen schwer verletzt. Das berichten Ärzte, die während der aktiven Kampfhandlungen in der Stadt geblieben und medizinische Hilfe geleistet haben.[2] Es mangelte an Medikamenten. Viele Menschen kamen ums Leben, weil sie verletzt waren oder chronische Krankheiten hatten und nicht die notwendigen Medikamente bekamen.[3]

Жінка біля Маріупольського пологового будинку після того, як Росія бомбила його 9 березня. Фото: Євген Малолєтка, Associated Press Frau bei der Geburtsklinik von Mariupol nach dem Bombenangriff durch Russland am 9. März Foto: Jevhen Maloletka, Associated Press A woman stands outside the city’s Maternity Hospital after it was bombed by Russian forces on 9 March (Photo Evgeniy Maloletka, AP) Una mujer frente al hospital de maternidad de Mariúpol después del bombardeo ruso el 9 de marzo. Foto: Yevgeny Maloletka, Associated Press Une femme devant la maternité de Marioupol après l’attentat à la bombe par la Russie, le 9 mars. Photo : Evgueni Maloletka, Associated Press Una donna presso la clinica ostetrica di Mariupol’, dopo che la Russia l’aveva bombardata il 9 marzo. Foto: Evgenij Maloletka, Associated Press Женщина у Мариупольского роддома после того, как Россия бомбила его 9 марта. Фото: Евгений Малолетка, Associated Press

Frau bei der Geburtsklinik von Mariupol nach dem Bombenangriff durch Russland am 9. März Foto: Jevhen Maloletka, Associated Press

Die Einwohner hatten nach dem 26. Februar 2022 keine Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Wegen ständiger Luftangriffe und des Artilleriebeschusses von Wohnhäusern waren die Menschen gezwungen, sich in Kellern aufzuhalten, die dafür nicht vorgesehen waren und in denen eisige Temperaturen herrschten. Sie hatten keinerlei Zugang zu Lebensmitteln, Wasser oder Medikamenten und lebten in ständiger Angst, sie empfanden diese Situation als „Hölle“.[4]

Gezielte Herstellung von Lebensbedingungen für eine bestimmte Gruppe, die auf ihre vollständige oder teilweise Vernichtung abzielen

Dieses Kriterium beschreibt genau die Situation, wie sie seit Anfang März 2022 in Mariupol bestand, als russische Truppen die kritische Infrastruktur der Stadt zerstört hatten: die Wasser-, Gas- und Stromversorgung, Heizung und Kommunikation. Danach wurden gezielt medizinische Einrichtungen vernichtet, unter dem Vorwand, dass sich ukrainische Soldaten dort aufgehalten hätten. Außerdem wurden humanitäre und Evakuierungs-Korridore gesperrt. Die Stadt konnte nicht mit Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten und dem notwendigen Bedarf für Kinder versorgt werden.

Die Bewohner Mariupols waren gezwungen, Regenwasser und Brauchwasser zu sammeln, sie kochten es ab, um es trinken zu können, und bereiteten ihr Essen auf Feuern auf der Straße zu.

Die vollständige Einkesselung von Mariupol, der fehlende Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten, die Zerstörung der kritischen Infrastruktur der Stadt hatte gravierende negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Stadtbewohner und führte nicht selten zum Tod. Die Lage der Menschen war aussichtslos.

Zudem kontrollierten die russischen Streitkräfte den Luftraum über Mariupol. Deshalb konnte man Wohnhäuser, kommunale und soziokulturelle Einrichtungen und Wirtschaftsunternehmen der Stadt nicht vor der Zerstörung schützen. Durch systematischen Beschuss von Wohnregionen vernichteten die russischen Streitkräfte innerhalb nur weniger Wochen über 80% der Wohnhäuser[5] und machten Mariupol zu einer Ruinen-Stadt, die zum Leben untauglich ist. In nächster Zukunft wird kein zivilisiertes, normales Leben in der Stadt mehr möglich sein.[6]

Bei der Evakuierung waren die Mariupoler gezwungen, eine erniedrigende Filtrations-Prozedur über sich ergehen zu lassen. Personen, die die erste Etappe der Filtration nicht „bestanden“, wurden für 30 Tage in einem Filtrationslager inhaftiert, unter schrecklichen Bedingungen, die allein schon einer Folter gleichkommen. Sie hatten keinen Zugang zu lebensnotwendigen Dingen, auch nicht zu Toiletten, und wurden ständig misshandelt und geschlagen. Wer jedoch auch durch die zweite Etappe der Filtration nicht durchkam, verschwand spurlos.

All diese Handlungen, die dem Zweck dienten, unerträgliche Lebensbedingungen zu schaffen, die Inhaftierung und das Verschwindenlassen von Personen, die die Besatzungsmächte als Feinde der Russischen Föderation ansahen, sind eine Bestätigung dafür, dass auch dieses Kriterium für den Tatbestand eines Genozids erfüllt ist.

Zwangsweise Überführung von Kindern aus einer Gruppe in eine andere

Informationen aus Quellen der Russischen Föderation und Berichte von Stadtbewohnern bestätigen, dass Kinder nach Donezk und in russische Städte verschleppt wurden.

Kinder, die in Kampfhandlungen ihre Eltern verloren hatten, kamen in Krankenhäuser von Donezk. Die Angehörigen waren gezwungen, bei allen Instanzen der so genannten Volksrepublik Donezk sowie humanitären Stäben der Russischen Föderation auf dem Territorium von Mariupol Nachforschungen nach ihnen anzustellen.

Die Deportation von Kindern aus Mariupol zum Zweck ihrer späteren Adoption wird bestätigt durch einen Erlass des russischen Präsidenten vom 30. Mai, der eine vereinfachte Gewährung der russischen Staatsbürgerschaft für sie vorsieht, sowie seinen Befehl über beschleunigte Adoptionsverfahren für Kinder, die aus der Ukraine nach Russland gekommen sind. Wie die ehemalige Menschenrechtsbeauftragte, Ljudmyla Denysova, Anfang Juni erklärte, wurden 2.161 Waisenkinder und Kinder, deren Eltern die Sorgerechte entzogen worden waren, nach Russland verschleppt. Diese Kinder wurden russischen Pflegefamilien übergeben.

Gekürzte Version. Die vollständige Version finden sie auf Ukrainisch hier, auf Englisch hier.


[1] Oleg Kotov, ”Russia’s armed forces have killed about 87,000 people in Mariupol but this does not include unidentified bodies [lying in the city morgue]”, Socportal.info (in English), 30.8.2022.

[2] Sergy (Gorobtsov), Archbishop of Mariupol and Donetsk, “This lad Dima is from Mariupol”, Facebook (in Ukrainian), 18.4.2022. “He did not leave the hospital for three days: the story of [Victor Lokutov from Dnipro] a traumatologist who saved the wounded from Kramatorsk and Mariupol”, Vchasno news agency (in Ukrainian), 18.8.2022.

[3] Kateryna Rodak, “A 27-year-old doctor [Andrei Serbin] tells how he saved his own life under shelling in Mariupol. His story is amazing”, Zaxid.net (in Ukrainian), 28.4.2022.

[4] “Augenzeugenbericht der Fotojournalisten Serhij Vaganov und Iryna Gorbatscheva aus Donezk”, Ukraїnska pravda (in Ukrainian), 22.3.2022.

[5] “Mariupol ist zu 80-90% zerstört, so der stellvertretende Bürgermeister”, Ukraїnska pravda (in English), 17.3.2022.

[6] “Satellitenbilder, aufgenommen von Machar Technologies, veröffentlicht vom „Guardian“: Verbrannte Häuser und ein zerstörtes Einkaufszentrum: Satellitenfoto von Mariupol und Video von einer Drohne”, Ukraїnska pravda (in Ukrainian), 18.3.2022.

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