„Für unsere und eure Freiheit! “ Auftritt von Olexandra Matvijtschuk auf der Pressekonferenz zum Nobelpreis 2022

Die Leiterin des Zentrums für bürgerliche Freiheiten betonte, dass der Nobelpreis dem gesamten ukrainischen Volk gehört, das im vollen Sinn des Wortes für seine Freiheit kämpft.
Olexandra Matvijtschuk17. Oktober 2022UA DE EN ES FR IT RU

Фото: Центр громадянських свобод Foto: Zentrum für bürgerliche Freiheiten Photo: Centre for Civil Liberties Photo : Centre pour les libertés civiles Фото: Центр гражданских свобод

Foto: Zentrum für bürgerliche Freiheiten

Guten Tag! Ich bin Olexandra Matvijtschuk, die Leiterin des Zentrums für bürgerliche Freiheiten.

Gestern bekam das Zentrum für bürgerliche Freiheiten den Friedensnobelpreis zuerkannt.

Es heißt, diesen Preis müsste das ukrainische Volk bekommen. Und ich bin stolz darauf, dass genau das jetzt der Fall ist. Das Zentrum für bürgerliche Freiheiten ist eine Organisation, in der Freiwillige eine entscheidende Rolle spielen. Dieser Preis ist nicht nur eine Auszeichnung für unser Team und die Personen, die all diese Jahre mit uns gearbeitet haben. Der Friedensnobelpreis wird allen Menschen in der Ukraine verliehen, die jetzt im vollen Sinn dieses Wortes für ihre Freiheit kämpfen.

Für die Freiheit, ein freier und unabhängiger Staat zu sein. Für die Freiheit, die ukrainische Sprache und Kultur zu entwickeln. Für die Freiheit, ihre demokratische Wahl zu haben und das Land zu gestalten, in dem die Rechte jedes Menschen geschützt, die Staatsmacht rechenschaftspflichtig, die Gerichte unabhängig sind und die Polizei keine friedlichen Studentendemonstrationen niederschlägt.

Während der Revolution der Würde hat das Zentrum für bürgerliche Freiheiten die Initiative Euromajdan SOS ins Leben gerufen, um den Demonstranten zu helfen, die einzig deshalb verfolgt wurden, weil sich einige tausend Menschen landesweit den Protesten angeschlossen hatten.

Dank breiter öffentlicher Unterstützung konnte das Zentrum für bürgerliche Freiheiten als erste Organisation mobile Gruppen entsenden, um Kriegsverbrechen auf der Krim und in den Gebieten Donezk und Luhansk zu dokumentieren. Tausende haben weltweit unsere internationale Kampagne #SaveOlegSentsov unterstützt. Sie haben Demonstrationen und andere kollektive Aktionen in über 35 Ländern durchgeführt, um die Freilassung des Regisseurs Oleg Sentsov und anderer politischer Gefangener zu erreichen.

Ich wünsche niemandem, einen Krieg durchzumachen, aber diese schwere Zeit gibt uns allen die Möglichkeit, uns von unserer besten Seite zu zeigen, vom Bauern, der mit seinem Traktor einen russischen Panzer wegschleppte, bis zum Präsidenten des Landes, der es ablehnte, Kyjiv zu verlassen. Wie nie zuvor empfinden wir jetzt mit aller Klarheit, was es heißt, Menschen zu sein.

Russland muss aus dem UN-Sicherheitsrat wegen systematischer Verletzungen der Satzung ausgeschlossen werden. Jahrzehntelang hat Russland Kriegsverbrechen begangen - in Tschetschenien, Moldavien, Georgien, Syrien, Mali, Libyen und der Ukraine.

Die UNO und ihre Mitgliedsstaaten müssen allen Opfern von Kriegsverbrechen Gerechtigkeit zukommen lassen und ein internationales Tribunal schaffen, um Putin, Lukaschenka und alle Kriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen.

Die Ukraine wird ihre Menschen nicht im Stich lassen, und deshalb kämpfen wir für eine vollständige Befreiung der besetzten Gebiete. Wir im Zentrum kämpfen heute für die Befreiung aller Menschen, die sich in russischer Gefangenschaft befinden. Dazu gehören der Krimtatar Server Mustafaev, Koordinator der Krim-Solidarität, die Militärärztin Viktorija Obidina, die von ihrer vierjährigen Tochter bei der Evakuierung aus Asovstal getrennt wurde, Ljudmyla Hussejnova, die Waisenkinder in besetztem Gebiet verteidigte und deswegen inhaftiert wurde. Und Tausende weiterer ukrainischer Soldaten und Zivilisten.

Wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, ihnen ihre Stimme zu geben und sich mit uns gemeinsam für ihre Freilassung einzusetzen, ebenso wie für die Freilassung aller politischer Gefangenen, die gegen die autoritären Regime in Russland und Belarus kämpfen.

Meine gesamte zwanzigjährige Erfahrung des Kampfs für Freiheit und Menschenrechte zeigt eindringlich, dass die Menschen weit mehr Einfluss ausüben als sie denken. Alles, was wir erreicht haben, ist ihnen zu verdanken.

Und schließlich gilt es, die Dinge beim Namen zu nennen. Russland hat seine imperialen Komplexe nicht überwunden und stellt eine Bedrohung für die Ukraine sowie für die gesamte Welt dar. Ebenso wie Belarus. Das Lukaschenka-Regime hat das eigene Land okkupiert.

Ales Bjaljazki, Valentin Stefanovitsch und Marfa Rabkova von „Vjasna“, Oleg Orlov, Svetlana Gannuschkina, Alexander Tscherkassov und Sergej Davidis von Memorial sind für mich und das Zentrum für bürgerliche Freiheiten Menschen, mit denen wir gemeinsam schon seit Jahren Seite an Seite gegen diese Bedrohung kämpfen. Jetzt ist Ales Bjaljazki hinter Gittern, und Memorial ist verboten.

Das ist die Geschichte vom Widerstand gegen ein gemeinsames Übel, davon, dass Freiheit keine Grenzen hat und dass die Menschenrechte universal sind. Davon, dass Menschenrechtler horizontale Kontakte knüpfen, für ihre Gesellschaften nicht sichtbar, um die Freiheit zu behaupten und die Menschen in unserer Weltregion zu verteidigen, in der erneut ein Unmensch uns alle zu beherrschen sucht. Früher oder später wird er verlieren. Und dann wird es Frieden geben.

Dieser Preis ist auf keinen Fall wie das alte Narrativ von Brudervölkern zu verstehen. Es ist eine ganz andere Geschichte — die Geschichte der Losung, die ich noch von meinem Lehrer, dem Dissidenten und Philosophen Jevhen Sverstjuk gehört habe „Für unsere und eure Freiheit!“

8. Oktober 2022

Artikel teilen