Verschwundene und Inhaftierte im Gebiet Charkiv: analytische Übersicht (24. Februar bis 23. Juni 2022)

Die Charkiver Menschenrechtsgruppe hat offene Quellen analysiert und Zeugen befragt. Sie hat 590 Fälle des Verschwindenlassens von Menschen ermittelt.
Anna Ovdienko14. September 2022UA DE EN ES FR IT RU

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Seit dem ersten Kriegstag bis zum heutigen Tag ist das Gebiet Charkiv Schauplatz aktiver Kampfhandlungen. Ein Drittel des Territoriums ist bis heute russisch besetzt, und in ungefähr der Hälfte wird weiter gekämpft. Unbestätigten Angaben zufolge schaffen die russländischen Truppen viele lokale Einwohner, darunter auch Kinder, aus der Ukraine heraus. Danach müssen diese spezielle Filtrationslager passieren. Einige werden entführt und in Besserungsanstalten in den besetzten Gebieten des Donbas und der Krim oder in der Russischen Föderation gebracht. Die übrigen leben in den zeitweilig besetzten Gebieten monatelang unter Beschuss, ohne Internet, Licht und Mobilverbindung. Aus all diesen Gründen ist die Anzahl von Vermissten in dieser Region katastrophal hoch.

Gesamtstatistik

Die Charkiver Menschenrechtsgruppe (KHPG) dokumentiert seit dem ersten Kriegstag Kriegsverbrechen. Sie nutzt dabei Informationen aus offenen Quellen und Mitteilungen von Opfern oder Angehörigen. In vier Monaten Krieg wurden 590 Fälle des Verschwindens im Gebiet Charkiv verzeichnet (777 Personen sind verschwunden). In 77 Fällen handelte es sich um gewaltsames Verschwindenlassen (79 Personen). Als gewaltsam gilt ein Verschwinden, wenn bekannt ist, dass Vertreter der russländischen Machthaber, russländische Soldaten, Kämpfer der „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk oder Personen, die zum Feind übergelaufen sind, jemanden gewaltsam gefangengenommen haben. Danach bleibt sein Aufenthalt unbekannt, und er genießt keinerlei gesetzlichen Schutz.

Noch in 13 weiteren Fällen (mit 23 Opfern) wurde der Aufenthalt mit der Zeit bekannt, als offizielle Vertreter der russländischen Behörden erklärten, dass sich die vermisste Person unter ihrer Kontrolle an einem bestimmten Ort befand. Damit kam sie aus der Kategorie der Vermissten in die Kategorie derer, die illegal der Freiheit beraubt wurden.

Umstände des Verschwindens

Wenn man nach einem Menschen sucht, kommt es entscheidend darauf an, den Zeitpunkt seines Verschwindens zu bestimmen. Infolge des Krieges wissen manche allerdings nicht einmal genau, wann eigentlich ihr Angehöriger verschwunden ist. Manchmal geben sie einen ziemlich großen Zeitraum an — mehrere Tage oder sogar Wochen. In sehr wenigen Fällen lässt sich die konkrete Tageszeit oder ein noch genauerer Zeitpunkt bestimmen. Das gleiche gilt auch für den Ort des Verschwindens — in vielen Fällen wird hier eine ganze Ortschaft angegeben oder der letzte Wohnort.

Bei dieser Datenlage ist klar, dass die Umstände des Verschwindens bei den meisten Opfern unbekannt bleiben. Das erklärt sich dadurch, dass sich die Vorfälle in zeitweilig besetzten oder in umkämpften Gebieten abspielten. Angehörige der Vermissten wissen in der Regel nichts über die genaue Situation in der jeweiligen Ortschaft. Zeugen befinden sich gewöhnlich selbst auf besetzten Gebieten, deshalb können sie keine präziseren Angaben zum Datum, zur Zeit und zu den Gründen des Verschwindens machen. Ebenso wenig können sie bestätigen, dass es sich um ein gewaltsames Verschwinden handelte. In den meisten Fällen werden sich die Informationen ergänzen lassen, wenn die Orte befreit werden. So sind zahlreiche Meldungen über gewaltsames Verschwindenlassen nach der Befreiung des Dorfs Zyrkuny eingegangen — in 13 von 77 registrierten Fällen (im gesamten Gebiet).

Zugleich sind bei vielen Personen, die in der besetzten Stadt Isjum und den ebenfalls besetzten umgebenden Dörfern verschwunden sind, die näheren Umstände unbekannt. Hier wurden 341 Fälle des Verschwindens dokumentiert, das sind 58 % der insgesamt verzeichneten Verbrechen. Das liegt daran, dass es in den Ortschaften lange Zeit keine Stromversorgung und keine Mobilverbindung gab, sowie durch den Massenterror und die Deportation der lokalen Bevölkerung. In anderen Gemeinden des Gebiets Charkiv sind die Fälle fast gleichmäßig verteilt. So sind im Bezirk Tschuhujiv 32 Fälle vermerkt, in den Bezirken Losova 5 und Kupiansk 2, im Bezirk Charkiv 76. Jedoch gilt eine Regel: Je heftiger die Kampfhandlungen in einer Region und je größer die besetzten Territorien sind, desto höher ist auch die Anzahl der Vermissten. Bezeichnend ist hier die Stadt Charkiv. Bei 1,5 Millionen Einwohnern vor dem Krieg gibt es nur 79 Vermisste, da die Stadt nicht erobert wurde und die Mobilverbindung nicht für längere Zeit ausfiel.

Geschlecht und Alter der Verschwundenen

Bei den Vermissten ist der Anteil an Frauen und Männern ungefähr gleich — es sind 389 Männer und 388 Frauen. Bei den Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens überwiegen jedoch deutlich die Männer (nur 15 % der von Russen entführten Personen sind Frauen). Die meisten Personen verschwinden einzeln, es kommt allerdings auch vor, dass 3, 4 oder 8 Personen zusammen verschwinden. Meist sind das Familien oder Nachbarn, die zusammen im Auto unterwegs waren, sich im Keller versteckt hatten usw.

Галина Турбаба — селищна голова с. Дворічного у Харківській області. 22 травня 2022 року стало відомо, що її викрали російські військові, 25 травня її звільнили. Фото: Мережа правового розвитку Halyna Turbaba, the head of the Dvorichna settlement (Kupiansk district), was kidnapped by Russian army, released in several days. Photo: Мережа правового розвитку Halyna Turbaba es la alcaldesa del pueblo Dvorichne, en la región de Kharkiv. El 22 de mayo de 2022 se registró su secuestro por militares rusos y el 25 de mayo quedó liberada. Foto: Red de Desarrollo Legal Halyna Turbaba, maire du village de Dvorichna (région de Kharkiv). Elle a été enlevée par des militaires russes le 22 mai 2022. Elle a été libérée le 25 mai. Photo : Réseau de développement de la justice. Галина Турбаба – поселковая голова с. Двуречного в Харьковской области. 22 мая 2022 года стало известно, что её похитили российские военные, 25 мая её освободили. Фото: Сеть правового развития

Halyna Turbaba, Bürgermeisterin von Dvoritschna im Gebiet Charkiv. Am 22. Mai 2022 wurde bekannt, dass sie von russländischen Soldaten entführt worden war. Am 25. Mai wurde sie freigelassen. Foto: Netz für Rechtsentwicklung

Viele der Vermissten sind über 60 Jahre alt (insgesamt wurden 101 Personen höheren Alters verzeichnet), und nicht wenige Kinder — 51. Fast immer verschwinden die Kinder gemeinsam mit den Eltern, allerdings gab es auch Berichte über Kinder, die ohne Eltern verschwanden, meistens Jugendliche. Ältere Personen verschwinden zu Hause. Bei über 80-jährigen ist jedoch zu befürchten, dass sie an Krankheiten, die während des Kriegs nicht behandelt werden konnten, verstorben sind. Sie gelten nur deshalb als vermisst, weil es derzeit keinen Zugang zu diesen Gebieten gibt.

Ort des Verschwindens

Die meisten Vermissten befanden sich in einem besetzten Ort zu Hause, und der Kontakt zu ihnen brach ab. Das kann man nicht immer mit einer fehlenden Mobilverbindung erklären, denn Personen, die seit März oder April vermisst werden, hätten in drei bis vier Monaten sicher eine Möglichkeit gefunden, um mit Angehörigen in Kontakt zu treten, sofern sie am Leben und gesund sind. Andernfalls würden nicht Hunderte, sondern Zehntausende vermisst, d. h. die gesamte Bevölkerung. Den meisten gelingt es jedoch, ihren Angehörigen Nachrichten zukommen zu lassen. Somit kann eine fehlende Stromversorgung oder Mobilverbindung kein plausibler Grund für das Verschwinden von Menschen sein, nach denen schon mehr als ein oder zwei Monate gesucht wird. Alternative Gründe sind die Verschleppung dieser Personen auf russisches Territorium, die Inhaftierung in Filtrationslagern, wo sie die Filtration nicht passieren konnten und danach ins Gefängnis kamen. Allerdings ist diese Annahme noch zu überprüfen.

  • So ist im März 2022 ein Einwohner des Dorfs Husarivka, Bezirk Isjum, Gebiet Charkiv verschwunden. Er war im Stall, um seine Kühe zu melken, als die Besatzer kamen, ihm einen Sack über den Kopf zogen und in unbekannter Richtung entführten. Er war bereits 59 Jahre alt, hatte nie in der Armee gedient und keine staatlichen Stellungen bekleidet.
  • Im Dorf Staryj Saltiv ist eine 59-jährige Verkäuferin eines dortigen Geschäfts verschwunden. Wie Verwandte später in Erfahrung brachten, wurde sie von Soldaten entführt, und ihr Haus und das Geschäft wurden unter Beschuss genommen.
  • In der zeitweilig besetzten Stadt Vovtschansk, Gebiet Charkiv, drangen ungefähr am 8. oder 9. Mai 2022 bewaffnete Soldaten in der Uniform der so genannten „Luhansker Volksrepublik“ in ein Wohnhaus ein und transportierten eine Bewohnerin ab mit unbekanntem Ziel (möglicherweise in ein Filtrationslager auf dem Gelände der Aggregatfabrik von Vovtschansk oder zur Arbeit in einem Lazarett, weil die Entführte eine Ärztin mit langjähriger Berufserfahrung ist).

40 Personen verschwanden auf der Strecke zwischen zwei Ortschaften. Die meisten von ihnen wollten entweder fliehen oder waren Freiwillige, die humanitäre Hilfe transportierten. Einige gerieten in einer Autokolonne auf einem „grünen Korridor“ unter Beschuss und verschwanden, andere fuhren über die Felder oder sogar auf der Straße, wo sie Kontrollposten passieren mussten. An den Kontrollposten der Besatzer wurden acht Personen gefangengenommen, die meisten von ihnen gewöhnliche Zivilisten, die keine militärische Vergangenheit hatten und auch nicht im Staatsdienst waren. Die meisten Personen, die auf der Strecke und an den Kontrollposten verschwanden, sind Opfer eines eindeutig gewaltsamen Verschwindenlassens.

  • Beispielsweise stand im Dorf Verbivka, Bezirk Balakija, Gebiet Charkiv, am 14. März 2022 ein Ortsbewohner an einer Haltestelle. Russländische Militärs ergriffen ihn dort und transportierten ihn mit unbekanntem Ziel ab.
  • Am 6. Mai 2022 waren vier Personen im eigenen Auto von Kupjansk nach Charkiv unterwegs. Sie wollten den Ort verlassen. An einem Kontrollposten wurden sie jedoch von den Besatzern angehalten. Danach sind alle vier verschwunden.
  • Am 23. März 2022 waren zwei Männer aus Perschotravneve unterwegs nach Savinzi, um Lebensmittel einzukaufen. Auf der Strecke befanden sich Kontrollposten. Beide sind auf dem Weg verschwunden, vermutlich an einem der Kontrollposten in Balaklija.
  • In Kosatscha Lopan war am 20. März 2022 ein Ortsbewohner in einer Autokolonne in Richtung Charkiv unterwegs, mit dem Ziel der Evakuierung. Besatzer hielten die Kolonne an und zwangen sie umzukehren. Der Mann beschloss, zu Fuß weiterzugehen. Danach ist er verschwunden.
  • An der ukrainisch-russischen Grenze ist ein Mann verschwunden, der sich auf dem Rückweg in die Ukraine befand. Noch vor dem Krieg hatte er seinen Sohn im Gebiet Belgorod (in Russland) besucht. Nach Beginn der Kampfhandlungen wollte er nach Hause zurückkehren, verschwand jedoch an der ukrainisch-russischen Grenze.
  • Eine weitere Form des Verschwindenlassens ist die Deportation nach einer Verletzung. Es sind Fälle bekannt, in denen russländische Soldaten gezielt Wohnhäuser von Zivilpersonen beschossen, die Ukraine für den Beschuss verantwortlich machten und umgehend anboten, die Personen zu „retten“. Der Abtransport erfolgte entweder gewaltsam oder mit Betrug. Die auf diese Weise weggeschafften Verletzten nahmen danach bezeichnenderweise keinen Kontakt zu ihren Angehörigen auf, was bedeutet, dass sie sich an einem Ort befanden, von dem aus sie nicht anrufen konnten.
  • In Isjum ist ein Mann verschwunden, nachdem er verletzt worden war. Vermutlich wurde er von russländischen Militärs am Ort des Beschusses festgenommen.
  • Ebenso wurde eine verletzte Frau aus Isjum weggebracht, die beim Beschuss ihres Hauses verletzt worden war. Rettungssanitäter sahen, dass sie eine Kopfverletzung hatte und von russländischen Soldaten mitgenommen wurde. Später stellte sich heraus, dass sie sich in einem Krankenhaus in Russland befand und man ihr lange Zeit keine Möglichkeit gab, von dort aus jemanden anzurufen.

Berufe der Vermissten

Die Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens waren meist Personen mit einem besonderen Status, obwohl die Entführung mitunter auch ohne solche Motive erfolgte. So wurden 5 ehemalige Soldaten entführt, 14 Freiwillige und 11 Staatsbedienstete. Anscheinend verfügten die Besatzer in einigen Dörfern, insbesondere Zyrkuny, von vornherein über Listen ehemaliger Soldaten, nach denen sie dann gezielt suchten. Freiwillige verschwanden meist unterwegs, wenn sie Güter transportierten. Die vermissten Staatsbediensteten hatten die russische Okkupation nicht unterstützt und aktiv Widerstand geleistet, obwohl ihr Ort bereits besetzt war.

  • Anfang März 2022 ist in Pryvillja, Bezirk Losova, Gebiet Charkiv, ein Freiwilliger verschwunden, der humanitäre Hilfe zu den Positionen der Truppen bringen wollte. Sein Schicksal ist vier Monate danach immer noch unbekannt. Unbestätigten Meldungen zufolge befindet er sich in Gefangenschaft.
  • Am 21. März 2022 wollte ein anderer Freiwilliger humanitäre Hilfe nach Novopokrovskoe, Bezirk Tschuhujiv, Gebiet Charkiv, bringen. Dort raubte man ihm die Lebensmittel und verprügelte ihn. Danach wurde er mit unbekanntem Ziel abtransportiert.
  • In Kupjansk ist ein Abgeordneter der lokalen Rada verschwunden. Als die Stadt eingenommen wurde, erklärte er sich bei einem Angriff bereit, mit den russländischen Militärs zu sprechen. Von dieser Begegnung ist er jedoch nicht zurückgekommen.

Das gewaltsame Verschwindenlassen wurde vor den Augen anderer Personen exerziert, vermutlich um diese abzuschrecken. Die Opfer wurden zu Hause oder am Arbeitsplatz entführt, manchmal auch auf der Straße. Bei den meisten der entführten Zivilisten ist ihr Aufenthaltsort bis heute nicht bekannt. Folglich können sie auch nicht ausgetauscht werden. Auch Schriftsteller und Fotografen, die über die Ereignisse berichten wollten, sind unter den Opfern.

Illegale Freiheitsberaubung

Wie oben bemerkt, haben wir 13 Fälle illegaler Freiheitsberaubung verzeichnet (mit 23 Betroffenen). Die Opfer, 16 Männer und 7 Frauen, sie wurden gefangen gehalten. Kinder waren nicht dabei, allerdings zwei Frauen in höherem Alter. In der Presse wurde ausführlich über Fälle illegaler Freiheitsberaubung von Staatsbediensteten (6 Personen) und Freiwilligen (2 Personen) berichtet. Außerdem wurde ein Geistlicher festgenommen und gefoltert.

  • Halyna Turbaba, Bürgermeisterin von Dvoritschna, Gebiet Charkiv. Am 11. Mai 2022 wurde bekannt, dass russländische Soldaten sie wegen ihrer offen proukrainischen Position entführten und vier Tage festhielten. Am 25. Mai ließen die Okkupanten sie frei.
  • Am 20. März 2022 kaperten russländische Soldaten einen humanitären Konvoi am Stadtrand von Charkiv im Bezirk Saltivka. Sieben Personen wurden als Geiseln genommen, sechs Fahrer und ein Arzt. Sie alle wurden am Tag darauf freigelassen.
  • Am 17. Mai 2022 entführten russländische Streitkräfte in Balaklija, Gebiet Charkiv, einen Pastor der baptistischen Kirche „Licht des Evangeliums“. Er wurde brutal geschlagen und gefoltert, er sollte gestehen, in amerikanischen Diensten zu stehen und Jugendliche missbraucht zu haben.

Олександр Салфетніков, пастор Церкви євангельських християн-баптистів «Світло Євангелія». Фото: vsirazom.ua In the town of Balakliia оn 17 May 2022 Russian troops abducted the pastor of the “Light of the Gospel” Baptist Church Oleksandr Salphetnikov. Photo: vsirazom.ua Oleksandr Salfetnikov, pastor de la Iglesia de Bautistas Cristianos Evangélicos Luz del Evangelio. Foto: vsirazom.ua Alexandre Salfetnikov, pasteur de l’église chrétienne baptiste « Lumière de l’Évangile ». Photo : vsirazom.ua Александр Салфетников, пастор Церкви евангельских христиан-баптистов «Свет Евангелия». Фото: vsirazom.ua

Olexander Salfetnikov, Pastor der Kirche der evangelischen christlichen Baptisten „Licht des Evangeliums“. Foto: vsirazom.ua

Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Analyse waren 70 % der Gefangenen bereits wieder frei. Daraus kann man schließen, dass es für die Befreiung eines Menschen aus der Gefangenschaft vor allem darauf ankommt, seinen Aufenthaltsort festzustellen.

Schlussfolgerungen

Die Charkiver Menschenrechtsgruppe (KHPG) wird weiterhin Informationen über Verschwundene in der Stadt sowie im Gebiet Charkiv sammeln. Allerdings kann man schon jetzt einigen Tendenzen feststellen und Schlüsse ziehen.

  • Die Gründe für die meisten Fälle des Verschwindens (bis zu 90 %) ließen sich nicht eruieren. Die meisten der Vermissten sind vermutlich in Gefangenschaft oder wurden zwangsweise in Filtrationslager gebracht, wo sie nicht telefonieren dürfen, oder sie haben die Filtration nicht passiert und befinden sich im Gefängnis. Auch eine Verletzung oder der Tod kann Ursache des Verschwindens sein, denn in den besetzen Gebieten werden solche Fälle von unseren Sicherheitsorganen nicht registriert. Da selbst in den zeitweilig besetzten Gebieten fast alle Einwohner eine Möglichkeit finden, wenigstens einmal im Monat Telefonkontakt aufzunehmen, ist nicht davon auszugehen, dass das Verschwinden sich hauptsächlich aus einer fehlenden Mobilverbindung erklärt.
  • Die meisten Vermissten gehörten nicht zu so genannten „Risikogruppen“, d. h. zu Menschenrechtlern, ehemaligen Soldaten, Journalisten, Staatsangestellten. Die meisten sind gewöhnliche Zivilisten. Daher ist offenbar ein besonderer Status nicht der einzige Grund für die Verfolgung von Bürgern in den besetzten Gebieten. Hier kann alles Mögliche eine Rolle spielen, jeder Akt fehlender Unterordnung, ob tatsächlich oder eingebildet. Dies zeigen die Umstände des gewaltsamen Verschwindenlassens in den bereits bekannten Fällen, wenn die Feinde gewöhnliche Zivilisten in ihrer Wohnung entführt haben. Dennoch sind natürlich Personen einer bestimmten Kategorie möglicherweise in größerer Gefahr, weil die Okkupanten oft sogar vor dem Einmarsch in eine Ortschaft über entsprechende Listen verfügen.
  • Gewaltsames Verschwindenlassen geht oft mit Folter oder grausamer Behandlung einher. Häufig wird berichtet, dass Zeugen gesehen haben, wie das Opfer vor dem Verschwinden geschlagen oder lange entwürdigend behandelt wurde. Das geschah häufiger, wenn das Opfer versuchte, sich zu verbergen oder zu fliehen, konnte aber auch ohne solche Versuche geschehen.
  • Das Verschwinden kann sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Personen, die im März oder April vermisst wurden, konnten oft bis heute nicht ausfindig gemacht werden. Der Prozentsatz der Aufgefundenen beträgt höchstens ein Zehntel der Gesamtzahl, obwohl immer mehr Personen die besetzten Gebiete verlassen, unsere Streitkräfte Ortschaften befreien und Techniker die Kommunikation und die Stromversorgung wiederherstellen.
  • Das Verschwinden zu untersuchen ist schwer oder sogar unmöglich. Da die meisten Vermissten in den zeitweilig besetzten Gebieten wohnen, können diese Fälle nicht untersucht werden, weil es dort kein funktionierendes Rechts- und Sicherheitssystem gibt. Deshalb gibt es wenig Hoffnung, dass Sicherheitsorgane die Vermissten finden könnten, es sei denn natürlich durch Recherchen in den Gefangenenlisten.
  • Die reale Zahl der Fälle der Verschwundenen ist weit höher. In der Tat können viele derzeit das Verschwinden eines Angehörigen nicht melden, weil sie sich selbst in den zeitweilig besetzten Gebieten befinden oder aber aus der Ukraine ausgereist sind. Deshalb wird man die tatsächliche Anzahl der Vermissten erst nach dem Krieg feststellen können.

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